
Horst Opaschowski (82) lehrte von 1975 bis 2006 an der Universität Hamburg und leitete von 2007 bis 2010 die Stiftung für Zukunftsfragen. Bis heute beschäftigt er sich mit dem Thema Zukunftsforschung. Die aktuelle Lage ist seiner Meinung nach alles andere als rosig. Aber er erkennt Trends, die Anlass zur Hoffnung geben.
Frage: Herr Professor Opaschowski, Sie sind ein seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik bekannter und anerkannter Zukunftsforscher. Wir wollen mit Ihnen über die anstehende Zukunft sprechen. Doch zunächst ein kritischer Blick. Was ist die größte Schwäche der Zukunftsforschung?
Horst Opaschowski: Die größte Schwäche der Zukunftsforschung ist, dass sie nicht Gott spielen kann und in der Öffentlichkeit oft mit Prophetie verwechselt wird. Nein – irren ist und bleibt menschlich, auch in der Forschung. Die Zukunftsforschung kann durch systematische Beobachtungen und repräsentative Befragungen die Hoffnungen und Sorgen, die Wünsche und Ängste der Menschen ermitteln. Aber: Zu schnell werden aufgezeigte Möglichkeiten schon als Wirklichkeiten angesehen.
Denken Sie nur an die Prognosen der Wirtschaftsforscher, die oft nur bis zum nächsten Quartal reichen. Es gibt Grenzen der Zukunftsforschung wie etwa eine unerwartete Rezession oder eine globale Pandemie. Auch Kriege, Krisen und Katastrophen sind nur bedingt voraussagbar. Wir Zukunftsforscher sind Analysten, Beobachter und Bewerter, aber müssen mit ständigen Überraschungen leben. Trotz Zukunftsforschung wachsen die Orientierungsschwierigkeiten der Menschen. Dies ist die größte Schwäche der Zukunftsforschung.
Die vergangenen drei Jahre 2020, 2021 und 2022 waren Jahre, die uns alle im Besonderen bewegt haben. Glauben Sie, dass man diese als zäsurhafte Jahre bezeichnen kann, die eines Tages als Kipppunkte in der Geschichtswissenschaft gesehen werden könnten? Und wenn ja, warum?
Opaschowski: Tatsächlich stellen die Jahre 2020/21/22 eine zeitgeschichtliche Zäsur dar. Die Dauerkrise hat die Lebenseinstellung der Deutschen nachhaltig verändert. Ein Absturz der Zuversicht ist derzeit in Deutschland feststellbar. Die Stimmungslage kippt: Hass, Hetze und Gewalt breiten sich im öffentlichen Leben weiter aus. Es ist kein Zufall, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache zu Zusammenhalt und Zuversicht aufgerufen hat. Denn beides ist in diesen Dauerkrisenzeiten von Coronakrise, Klimakrise und Ukraine-Krieg mit den Folgen von Inflation und Energiekrise bedroht. Damit die Gesellschaft nicht auseinanderdriftet, rücken die Menschen enger zusammen. Der vom Bundespräsidenten gewünschte Zusammenhalt findet im engsten Nahmilieu statt: Familie, Freunde und Nachbarschaft werden „der“ soziale Kitt in den nächsten Jahren sein.
Diese drei Jahre liegen also hinter uns, blicken wir aus diesem Grunde nicht nur ins Jahr 2023, sondern in die kommenden drei Jahre. Welche grundsätzlichen Trends würden Sie prognostizieren?
Opaschowski: Es zeichnet sich ein dreifacher Wertewandel ab, den ich aufgrund meiner Untersuchungen ermittelt habe: Erstens wird in den subjektiven Einstellungen der Deutschen Freiheit ohne Sicherheit immer weniger wert. Ja, Sicherheit – etwa innere oder soziale Sicherheit – wird für viele sogar wichtiger als Klimaschutz. Zweitens sind inzwischen Nachbarn oft hilfreicher als Freunde. Das hat sich in der Coronakrise gezeigt. Freunde waren weit weg, aber Nachbarn sofort da und halfen. In vielen Fällen.

Und drittens ist die Ehe mit Trauschein und Kindern für die Mehrheit der Bevölkerung inzwischen wieder „das erstrebenswerteste Lebensmodell“. Gesellschaftlich wird uns neben der Umwelt-, Klima- und Energiepolitik die Gesundheitsvorsorge und der Pflegenotstand weiter zu schaffen machen. Die soziale Ungleichheit wächst, die Wohnungsnot nimmt zu und eine doppelte Armut, die Geld- und Kontaktarmut, breitet sich aus. Auf diese Probleme reagiert die Bevölkerung mit einer positiven Gegenbewegung: Die Familie wird der wichtigste Lebensinhalt. Die Freundschaft zwischen den Generationen wächst. Und die positive Einstellung zum Leben überwiegt.
Glauben Sie, dass es eine längerfristige Rezession in Deutschland geben wird?
Opaschowski: Wie schon immer in der Menschheitsgeschichte folgen auf fette Jahre auch magere Jahre – und umgekehrt. Gemäß historischer Erfahrungen gilt derzeit: Das Schlaraffenland ist abgebrannt. Es kann also nur noch besser werden. Aber das braucht Zeit. Alle Hoffnungen auf eine rezessionsfreie Zeit richten sich jetzt realistischerweise auf die Jahre 2024/25. Dann haben wir uns wohl mehrheitlich mit Sparmaßnahmen arrangiert und regeneriert. Dann werden wir uns an den Konsum nach Maß gewöhnt haben und beim Geldausgeben mehr Lebensqualitätsansprüche stellen.
Die 20er Jahre im 21. Jahrhundert werden nicht nur ein Zeitalter der Krisen sein. Neue Sinnansprüche entwickeln sich: Mehr Zeit zum Leben. Zeitwohlstand und Beziehungsreichtum kommen als neue Wohlstandsfaktoren hinzu. Das Zeitbudget konkurriert mit dem Geldbudget. Und das persönliche Wohlergehen wird wichtiger als die materielle Wohlstandssteigerung. Das Bruttoinlandsprodukt BIP als Wohlstandsmaßstab greift dann viel zu kurz. Deshalb habe ich auch gemeinsam mit dem Hamburger IPSOS-Institut einen Nationalen Wohlstands-Index für Deutschland – NAWI-D – entwickelt. Er misst, wie gut es den Menschen geht – materiell und sozial und mental.