Lähmung ist die wohl treffendste Beschreibung für den Zustand, in dem sich das Berliner Regierungsviertel seit dem SPD-Entscheid für eine neue Doppelspitze befindet. Mit einem Sieg vonSaskia Esken und Norbert Walter-Borjans hatten nicht viele gerechnet, weder bei der SPD noch in den gegnerischen Lagern. Und weil die Lage unübersichtlich war, mahnten Spitzenpolitiker aller Seiten zur Ruhe. Drei Optionen werden derzeit in der Bundespolitikdiskutiert. Ein Fortbestand der Großen Koalition, eine Minderheitsregierung – oder Neuwahlen. Hier eine Einschätzung zu den verschiedenen Szenarien in der Reihenfolge ihrer Wahrscheinlichkeit:
Die GroKo macht weiter
Einerseits wurde am Montag mächtig geschimpft. „Die Wahl eines gescheiterten Provinzpolitikers und irgendeiner Baden-Württembergerin zu Vorsitzenden der SPD zeigt, wie weit sich die Parteiführung inzwischen von den wirklichen Sorgen der Menschen und vor allem von den Arbeitnehmern entfernt hat“, erklärte etwa der Karlsruher CDU-Bundestagsabgeordnete Axel E. Fischer, der „notfalls“ auch Neuwahlen nicht ausschloss. Doch noch ist die Regierung vom Grundsatzher stabil. Sie hat einen Bundeshaushalt für 2020 verabschiedet und wichtige Gesetze auf den Weg gebracht. Daran ändern auch Walter-Borjans und Esken nichts.
Für einen Fortbestand der GroKo spricht, dass Angela Merkel nach Einschätzung von Unions-Politikern noch längst nicht aus dem Kanzleramt ausziehen will. Das könnte frühestens Anfang 2021 der Fall sein. Dann nämlich endet die deutsche EU-Ratspräsidentschaft.
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hat ebenfalls Interesse an einem Fortbestand der GroKo. Sie kann sich keineswegs sicher sein, dass sie bei einem Platzen automatisch als Spitzen- beziehungsweiseKanzlerkandidatin gesetzt wäre. Ihre Gegner können immer noch Friedrich Merz als Gegenkandidaten aus dem Ärmel ziehen, darüber hinaus fällt im Zusammenhang mit der K-Frage immer öfter der Name Markus Söder. Es sei durchaus an der Zeit, dass ein Bayer ins Kanzleramteinziehe, heißt es. Söder vertrete Werte und Ansichten, die in CDU und CSU mehrheitsfähig seien. Söder allerdings fühlt sich in München derzeit ganz wohl und will so schnell nicht nach Berlin umziehen. Fazit: Trotz aller derzeitigen Turbulenzen spricht vieles dafür, dass die GroKo hält.
Neuwahlen
Neuwahlen sind unter anderem dann möglich, wenn Kanzlerin Merkel etwa aus gesundheitlichen Gründen hinschmeißt und ein Kanzlerkandidat nur eine relative (und nicht die absolute) Mehrheit im Bundestag bekommt. Der Bundespräsident kann den Gewählten zum Kanzler einer Minderheitsregierung ernennen – oder den Bundestag auflösen, mit der Folge, dass es binnen 60 Tagen Neuwahlen geben muss. Merkel könnte auch die Vertrauensfrage stellen und in Absprache mitden anderen Parteien ein Scheitern einfädeln, was ebenfalls Neuwahlen zur Folge hätte. Doch bei SPD und Union wissen sie, dass keine der Regierungsparteien davon profitieren würde. Gewinnen würden vermutlich AfD und Grüne. Fazit: Neuwahlen sind nur die zweitbeste Lösung, kommen aber in Betracht, weil sie die Sehnsucht nach einem Schlussstrich befriedigen würden.
Minderheitsregierung
Am kommenden Wochenende tagt der SPD-Bundesparteitag. Sollte der ein klares Votum für einen Austritt aus der GroKo aussprechen oder unerfüllbar hohe Forderungen an CDU und CSU formulieren, wird die Union aus der Koalition ausscheren müssen. Kanzlerin Merkel könnte neue Minister bestellen und mit einer Minderheitsregierung weitermachen. Stabil ist das nicht, eine solche Regierungsform widerspricht deshalb entschieden Merkels Naturell. Aber sie könnte sich einige FDP-Politiker ins Boot holen, beispielsweise den liberalen Parteichef Lindner zum Außenminister machen, und so der ganzen Sachen etwas mehr Spurtreue verleihen.
FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg sprach sich am Montag dann auch ostentativ für einen sofortigen Politikwechsel aus. Fazit: Eine Minderheitsregierung wäre angesichts ihrer Instabilität die unbeliebteste aller Lösungen.