
Der Bettler hatte immer vor dem Supermarkt gesessen. Er gehörte zum Stadtbild von Sölvesborg wie die Kirche aus dem späten 13. Jahrhundert und die längste Fußgängerbrücke Europas, die die Stadt an der Küste Südschwedens mit einer kleinen Insel verbindet. Er habe viel gelächelt, sagen die, die regelmäßig bei ihm vorbeikamen. Jetzt ist der Bettler verschwunden. Die neue Partei an der Stadtspitze hat das Betteln unter Strafe gestellt. In Sölvesborg regieren seit einem halben Jahr die rechtspopulistischen Schwedendemokraten. Politikwissenschaftler sagen: die schwedische AfD.
Die Regenbogenflagge ist verschwunden
Verschwunden ist seitdem auch die Regenbogenflagge am Rathaus des 17 500-Einwohner-Städtchens - Symbol für eine offene, tolerante Gesellschaft. Toleranz gehört nicht zum politischen Programm der neuen Bürgermeisterin Louise Erixon und ihrer konservativen Koalition, wenn es etwa um Minderheiten geht. Die Fahne abzuhängen, wurde vielen Sölvesborgern dann aber doch zu bunt. Jetzt sieht man die Regenbogenflagge zwar nicht mehr an dem massiven Backsteingebäude in der Innenstadt, aber sonst an jeder Ecke. Der Herbstwind reißt an ihr auf dem Dach eines Häuschens am Marktplatz. Sie hängt im Fenster der Buchhandlung. Und Rentner zuckeln mit Regenbogenflagge am Auto durch die Stadt.

Bürgermeisterin Erixon, 30 Jahre alt, groß, wechselnd gefärbtes Haar, findet die Proteste offiziell gut, sogar „supergut“ - obwohl sich ihre Partei gegen die Ehe für homosexuelle Paare stellt. Die Leute würden wieder ihre demokratischen Rechte wahrnehmen, sagte Erixon schwedischen Medien. Und das stimmt auch. Anna Olofsson zum Beispiel, Besitzerin eines Modeladens, wäre unter normalen Umständen wohl nie zur Aktivistin geworden. Nun stellt sie im Schaufenster Hosenträger in Regenbogenfarben aus. „Wenn die einen etwas verbieten, stehen die anderen auf“, sagt die Mutter einer 13-jährigen Tochter. Sie hat es satt, „in den homophoben Topf geworfen zu werden“, nur weil sie in Sölvesborg lebt.
Jeder Dritte hat rechts gewählt

Jeder Dritte in ihrer Stadt hat im Herbst 2018 rechts gewählt. Moderate, Christdemokraten und eine lokale Kleinstpartei gingen eine Koalition mit den Schwedendemokraten ein. Es war der erste Ort im ganzen Land, in dem die Populisten an die Macht kamen. Plötzlich kennt jeder Schwede Sölvesborg. Das Schaufenster der Rechten. Die Stadt, in der sie ganz Schweden zeigen: Seht her, so wäre es, würden wir im ganzen Land regieren. Seitdem haben sie nicht nur Bettler aus den Straßen verbannt. In öffentlichen Gebäuden darf keine moderne Kunst mehr ausgestellt werden. „Klassisch und zeitlos“ soll sie sein. Künstler sprechen von Zensur. In den Gemeinde- und Schulbibliotheken soll es nur noch Bücher auf Schwedisch geben. Denn die Sprache, hieß es aus dem Rathaus, helfe bei der Integration nicht-schwedischer Bürger. Die Bibliotheks- und Kulturchefin, Sofia Lenninger, wehrte sich gegen den Beschluss. Sie entschied sich zudem, dass Menschen außerhalb Schwedens von der Sache erfahren sollten, wollte unserer Redaktion ein Interview geben. Zwei Stunden vor dem Termin kommt die Absage. Lenningers Job hängt am seidenen Faden. Eine Woche später werden die Schwedendemokraten sie feuern.
Britta Schellenberg vom Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München analysiert den Aufstieg populistischer Parteien in Europa. Zuletzt saß sie im thüringischen Landtag Björn Höcke gegenüber. Schellenberg gehörte zur Enquete-Kommission, die die Landesregierung eingerichtet hatte, um die Ursachen für Rassismus und Diskriminierungen in Thüringen zu untersuchen. „AfD und Schwedendemokraten sind vergleichbar“, sagt sie. Zwar hätten beide eine unterschiedliche Geschichte - die Schwedendemokraten gingen in den 80ern aus der rassistischen Vereinigung „Schweden soll Schweden bleiben“ hervor, die AfD begann als wirtschaftsliberale, eurokritische Partei. „Heute treten die Schwedendemokraten freundlicher auf als früher, die AfD wird radikaler - und irgendwo treffen sie sich dann.“ Schellenberg weiß, was in Sölvesborg passiert. Und sie sagt: „Ich gehe davon aus, dass die AfD in deutschen Parlamenten ganz genauso regieren würde.“
Aus Sicht ihrer Wähler haben die schwedischen Rechten in ihren ersten Monaten im Rathaus vieles richtig gemacht. Dank ihnen hat die Schwimmhalle länger geöffnet - und das beim halben Eintrittspreis. Am Bahnhof patrouilliert jetzt eine Sicherheitswacht - dabei ist es laut Polizeistatistik dort gar nicht unsicherer geworden. Auch das Feuerwerksverbot zu Silvester kommt an. Die meisten finden gut, dass es die Umwelt schützt und ihre Haustiere keinen Schreck mehr bekommen. „Schwedens Augen richten sich auf Sie - brillante Arbeit bisher!“, schreibt ein Nutzer auf der Facebook-Seite der Ortsgruppe. „Kluge Politiker mit soliden, bürgernahen Meinungen“, lobt ein anderer.
Jimmie Åkesson ist ein Sohn Sölvesborgs
Bei den Wahlen zum Landesparlament in Stockholm haben die Schwedendemokraten ihr Ergebnis 2018 um fünf Prozentpunkte auf 17,6 Prozent gesteigert, sind jetzt drittstärkste Kraft. Auch bei der Europawahl im Mai legten sie zu. Spätestens da ist ein Wähler im Netz überzeugt: „Jetzt werden es andere Gemeinden genauso machen wie Sölvesborg.“ Dass die Schwedendemokraten ausgerechnet dort so erfolgreich sind, liegt vor allem am „Jimmie-Bonus“. Parteichef Jimmie Åkesson ist ein Sohn Sölvesborgs und lebt immer noch hier. Bürgermeisterin Erixon ist seine Lebensgefährtin und Mutter seines kleinen Sohnes. Viele der älteren Sölvesborger nennen Åkesson einen „guten Jungen“ - als wäre er ein Kind und nicht der 40-Jährige, der als brillantester Redner im schwedischen Parlament gilt und den Schwedendemokraten seit mittlerweile 14 Jahren ein freundliches Schwiegersohn-Gesicht verleiht.
Jörgen Englin ist auch in Sölvesborg geboren. Er ist etwas älter als Åkesson und erinnert sich noch gut an den ausländerfeindlichen Außenseiter, der dieser in der Schule gewesen sei. Heute fühlt Englin sich oft selbst an den Rand gedrängt. Der zweifache Vater sitzt für die Sozialdemokraten im Stadtrat. Mehr als ein Vierteljahrhundert lang stellte seine Partei den Bürgermeister. „Damals haben wir uns mit den Oppositionspolitikern getroffen und nach Kompromissen gesucht.“ Heute verläuft die unsichtbare Mauer, die den Ort spaltet, auch mitten durch den Sitzungssaal. „Auf der einen Seite sind die, auf der anderen wir.“ Er meint es bildlich und im übertragenen Sinn. Bei den Sitzungen versuche der Sitzungsleiter regelmäßig, der Opposition nach wenigen Sekunden am Rednerpult das Wort abzuschneiden. Bürgermeisterin Erixon, die sonst allein wegen ihrer Lautstärke und körperlichen Präsenz zum Zentrum jeder Gruppe wird, gebe sich überhaupt nicht mit der Opposition ab. Auf die Bitte eines Interviews mit unserer Redaktion lässt sie sich ebenfalls entschuldigen, zu beschäftigt. Die Münchner Politikforscherin Schellenberg hält das Handeln der Rechten im Stadtrat für typisch. „Zwischen diesen rechtsradikalen und den demokratischen Parteien gibt es grundsätzliche Unterschiede in der Vorstellung, wie Gesellschaft und Politik funktionieren müssen.“ Ein Diskurs oder Aushandlungsprozesse seien bei Parteien wie Schwedendemokraten und AfD nicht vorgesehen. „Es geht immer darum, dass der Stärkere sich durchsetzt, alles ist Ideologie.“
Die AfD spielt in weiten Teilen Deutschland kommunalpolitisch noch eine geringe Rolle, vor allem im Süden. Im baden-württembergischen Burladingen sitzt mit Harry Ebert zwar ein AfDler im Rathaus, als solcher gewählt wurde der Bürgermeister aber nicht. Erst 2018 wechselte der lange parteilose Ebert zur AfD, sein Verhältnis zum Gemeinderat gilt als zerrüttet. Ihm unliebsame Journalisten drohte der Rathauschef mit Anzeigen, sollten sie über städtische Einrichtungen berichten.
In Gera ist die AfD die stärkste Kraft
In Görlitz (Sachsen) und im thüringischen Gera hätte es für die Partei zuletzt fast gereicht, beide AfD-Oberbürgermeister-Kandidaten unterlagen erst in der Stichwahl. Stärkste Kraft im Stadtrat ist in Gera dennoch die AfD. Auch bei der Landtagswahl dominierte sie in 248 von 664 Gemeinden. In Thüringen weiß man genau, wer rechts gewählt hat: überwiegend Menschen unter 60, mehr Männer als Frauen. Für Sölvesborg hat keiner solche Dinge ausgewertet. Jetzt ist der ganze Ort als rechter Sumpf gebrandmarkt. Dabei sei er viel mehr, sagt Ken Brenner, der ein Hostel betreibt. Fast den ganzen Sommer ist er ausgebucht: Den Stadtplan gibt es auf Deutsch, Touristen kommen zum Radfahren in die Buchenwälder oder erkunden den idyllischen Schärengarten. „Und im Juni ist die ganze Stadt voller Metal-Fans“, sagt der Mann, der mit seinem schulterlangen Haar und dem Stoppelbart unter den 35 000 Besuchern nicht auffallen würde, die jährlich zum Schwedenrock-Festival pilgern. Brenner trägt hinter seiner Hostel-Rezeption zwar auch im Herbst noch kurze Hosen, doch in Sölvesborg ist es kalt geworden.
Wenn Stadtrat Jörgen Englin in dicker Winterjacke durch die Straßen läuft, grüßt er fast jeden mit Namen. Man merkt ihm nicht an, worunter er in der neuen Situation am meisten leidet: „Das Schlimmste ist, dass man misstrauisch wird.“ Wieso zum Beispiel hängt die Schwedenflagge am Eingang des Kosmetikstudios? „Einfach nur, weil ich Schweden mag“, erklärt die Besitzerin freundlich auf Nachfrage. Meint sie das politisch? Englin weiß es nicht, das macht ihm schwer zu schaffen. Er fühle sich schuldig. Immer noch sucht Englin nach den Gründen, weshalb seine Sozialdemokraten bei der Wahl um neun Prozentpunkte auf 33 Prozent abgerutscht sind. Fest steht aber: Die Schwedendemokraten punkten vor allem mit ihrer Migrationskritik.
Lange war das sozialdemokratisch geprägte Schweden das gelobte Land für Asylsuchende. Gemessen an der Bevölkerungszahl nahm es zwischenzeitlich so viele Asylbewerber auf wie kein anderer EU-Staat. 2015 kamen mehr als 160 000 Menschen über die Grenze. Die staatlichen Zuwendungen waren hoch, die Flüchtlinge bekamen Landeskundeunterricht, fingen schnell an zu arbeiten. Doch viele Schweden fühlten sich überrannt, Wohnraum wurde knapp.
Schweden hat ähnliche Probleme wie Deutschland
Heute hat Schweden ähnliche Probleme wie Deutschland. In den Behörden stapeln sich unbearbeitete Asylanträge. Der Kurs in der Flüchtlingspolitik wurde verschärft. Durch die Medien gehen Fälle, in denen integrierte Asylbewerber von ihrer Arbeitsstelle weg abgeschoben werden. Doch da sind auch die positiven Folgen der Migration - vor allem im dünn besiedelten, überalterten Norden. Dort haben im April zwölf Kommunen die Regierung gebeten, mehr Asylbewerber aufnehmen zu dürfen. Man ist dankbar für Neuankömmlinge, die in den Holzfabriken arbeiten und in die verlassenen Wohnungen ziehen. Kindergärten und Schulen sind wieder mit Leben erfüllt, obwohl junge Familien lieber in Metropolen wie Stockholm oder Göteborg leben.
Sölvesborg liegt im migrationskritischen Süden, eineinhalb Schnellzugstunden entfernt von Malmö, Schwedens Zentrum der Organisierten Kriminalität. Im August hat Bürgermeisterin Erixon ihren bisher größten Coup angekündigt. Zwölf Asylbewerber sollen ab 2020 in Sölvesborg leben - doch die Stadtregierung wird sich weigern, sie aufzunehmen. Was wiegt schwerer: kommunale Selbstverwaltung oder das Asylrecht, das der Regierung erlaubt, Asylsuchende auf einzelne Gemeinden zu verteilen? Erixon will in dieser Frage einen juristischen Präzedenzfall schaffen.