Fünf Jahre, zwei Monate und sechs Tage – so lange hat es gedauert von jenem Moment an, da der Vorsitzende Richter Manfred Götzl vom 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts in München zum ersten Mal sein morgendliches Ritual abgespult hat (viermal „Guten Morgen“ zu den Angeklagten, den Nebenklägern, den Staatsanwälten und dem Publikum), bis zu dem Moment, wenn er an diesem Mittwoch „im Namen des Volkes“ über Beate Zschäpe und ihre vier Mitangeklagten richtet.
Das Urteil
Noch wissen nur Manfred Götzl und seine vier Kollegen, ob sie Beate Zschäpe für eine Mittäterin halten. Dann müsste sie lebenslang hinter Gitter.Sie wäre eine Mörderin, ohne dass sie auch nur einmal am Tatort gewesen oder den Abzug durchgezogen hätte. Die Bundesanwaltschaft hält das für gerechtfertigt. Sie ist überzeugt, dass es den NSU ohne Zschäpes Hilfe nicht gegeben hätte. Zschäpe hat demnach das Tarnnetz über Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos aufgespannt und verankert. Sie hat die Finanzen für die drei geführt. Sie war wesentlicher Teil des NSU. So sehen es die Ankläger. Ihre fünf Verteidiger bestreiten das. Sie sagen, es gebe dafür keinen Beweis. Für sie kann Zschäpe nur für die Brandstiftung in der Zwickauer Frühlingsstraße verurteilt werden. Dass sie die Fluchtwohnung abgefackelt hat, bestreitet sie nicht. Dafür wären maximal zehn Jahre Haft denkbar. Mit sechseinhalb Jahren Untersuchungshaft hätte sie die fast abgesessen.
Die Opfer
Neun Männer und eine Frau haben Böhnhardt und Mundlos ermordet. Ihre Serie beginnt am 9. September 2000 in Nürnberg. Enver Simsek ist 38 Jahre alt, als ihn die Kugeln treffen. Am 13. Juni 2001 ermorden sie den 49-jährigen Abdurrahim Özudogru in seiner Schneiderei in der Nürnberger Südstadt. Süleyman Tasköprü ist 39 Jahre alt, als ihn die beiden in seinem Hamburger Gemüseladen hinrichten. Es ist der 27. Juni 2001. Am 29. August 2001 ermorden sie den 38-jährigen Münchener Lebensmittelhändler Habil Kilic. Dann vergehen zwei Jahre, ehe Böhnhardt und Mundlos am 25. Februar 2004 in Rostock den 25-jährigen Mehmet Turgut erschießen. Am 9. Juni 2005 kehren sie nach Nürnberg zurück und ermorden Ismail Yasar, 50. Sechs Tage später stirbt Theodoros Boulgarides in seinem Münchener Geschäft. Er ist 41 Jahre alt. Am 4. April 2006 ermorden Böhnhardt und Mundlos den 39-jährigen Mehmet Kubasik in Dortmund, zwei Tage später Halit Yozgat in Kassel. Er ist mit 21 Jahren das jüngste NSU-Opfer. Ein Jahr später erschießen Böhnhardt und Mundlos die 22-jährige Polizistin Michele Kiesewetter. Ihr Tod am 25. April 2007 bildet den Schlusspunkt der Mordserie.
Die Angehörigen
Für sie war das Leben nach den Morden in vielerlei Hinsicht ein Martyrium. Nicht nur, dass sie den Verlust eines geliebten Menschen verarbeiten mussten. Sie sahen sich wilden Verdächtigungen ausgesetzt. Es ist üblich, dass nach einem Mord das familiäre Umfeld des Opfers unter die Lupe genommen wird. Doch die Fahnder gingen weiter, hörten die Angehörigen ab, stellten ihnen Fallen, machten sie zu Hauptverdächtigen. Im Prozess beschreiben die Hinterbliebenen, wie entsetzlich diese Jahre der Ungewissheit und der Verdächtigungen für sie gewesen sind.
Der Verfassungsschutz
Nicht erst seit dem Prozess ist klar, wie dubios die Rolle der Verfassungsschutzämter gewesen ist. Sie haben Dutzende Rechtsextremisten angeworben und mit Steuergeld den Aufbau rechtsextremer Organisationen in Thüringen erst möglich gemacht. Dort haben sich Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe radikalisiert, unter den Augen des Verfassungsschutzes. Im Prozess mauern dessen Vertreter. Dass ein Beamter des Bundesverfassungsschutzes kurz nach dem Auffliegen des NSU kiloweise Akten schredderte, nennt nicht nur die Ombudsfrau der Bundesregierung für die NSU-Opfer „einen Skandal erster Güte“. Kritiker halten der Bundesregierung wie den Verfassungsschutzämtern vor, dass das Verhalten der Mitarbeiter bis heute kaum zu Konsequenzen geführt habe.
Der schlimmste Moment
Es gibt so viele davon. Polizeibeamte, die sich über die Wohnung eines Opfers lustig machen. Fahnder, die nicht nach rechtsextremen Motiven und Tätern gesucht haben und das auch heute noch verteidigen. Neonazis, die das Gericht verhöhnen und belügen. Nachbarn, die es nicht verwerflich finden, wenn sich jemand ein Hitler-Bild auf den Fernseher stellt. Eltern, die sehen, wie ihre Söhne in die rechtsextreme Szene abdriften, dem Staat die Schuld geben und bis heute nicht wahrhaben wollen, dass ihre Söhne kaltblütige Verbrecher waren.
Der ergreifendste Moment
Vielleicht die Tränen der jungen Frau, die Zschäpe im Urlaub kennengelernt und über Jahre für ihre Freundin gehalten hatte, nicht ahnend, wer sich hinter Liese verbirgt. Vielleicht der Moment, als Ismail Yozgat sich auf den Boden des Gerichtssaals wirft und weinend zeigt, wie er den Kopf seines sterbenden Sohnes, seines Lämmchens, gehalten hat.
Der stärkste Moment
Der Auftritt jener jungen Frau, deren Gesicht und Oberkörper die erste Bombenexplosion in der Kölner Probsteigasse zerfetzt hat. Die Bombe steckte in einer Dose, die Böhnhardt oder Mundlos im Laden der iranischen Familie deponiert hatten. Sechs Wochen lag die Frau im künstlichen Koma, seit Januar 2001 hat sie Dutzende Operationen durchlitten. Als klar wurde, dass der NSU hinter dem Attentat steckt, habe sie überlegt, ob sie das Land verlassen solle, erzählt sie vor Gericht. „Dann habe ich gedacht: Nein, jetzt erst recht! So leicht lasse ich mich nicht aus Deutschland rausjagen.“ Heute ist sie Ärztin.
Der Prozess
437 Verhandlungstage waren nötig, damit das Gericht sich ein Bild machen konnte. Das liegt auch an der Vielzahl der Vorwürfe (zehn Morde, zwei Bombenanschläge in Köln, mehr als ein Dutzend Raubüberfälle im Osten), aber auch daran, dass das NSU-Verfahren ein reiner Indizienprozess ist. Beate Zschäpe bestreitet die zentralen Vorwürfe, ihre vier Mitangeklagten bis auf eine Ausnahme ebenfalls. Dazu die große Zahl an Nebenklägern. All das kostet Zeit. Und Geld.
Die Medien
Sie haben sich nicht immer mit Ruhm bekleckert. Boulevardblätter nannten Zschäpe einen Teufel, gaben ihr gleich zu Beginn den Titel „Nazi-Braut“, bescheinigten ihr eine „Hitler-Pose“. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk produzierte Pseudo-Dokumentationen, in denen Erfundenes mit Wahrem verschmilzt, untrennbar verbunden für alle, die nicht die Details der NSU-Geschichte kennen. Ein Zerrbild der Realität.
Die offenen Fragen
Es sind so viele. War der NSU tatsächlich ein abgeschotteter kleiner Zirkel oder gab es nicht doch sehr viel mehr Unterstützer? Ein Verdacht, der naheliegt angesichts von Tatorten, die Ortsunkundige kaum aufspüren können. Welche Rolle hat der Verfassungsschutz wirklich gespielt? Waren seine Mitarbeiter tatsächlich so ahnungslos, wie sie vorgeben? Und, vor allem, wie lässt sich Vergleichbares für die Zukunft verhindern? All das wird die Öffentlichkeit noch lange beschäftigen. Das Gericht nicht. Manfred Götzl und seine Kollegen haben getan, was ihre Aufgabe ist: ein gerechtes Urteil für die angeklagten Straftaten zu finden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Roland Englisch ist Münchner Korrespondent der „Nürnberger Nachrichten“. Er hat den Mammutprozess über fünf Jahre verfolgt.