
Christoph Klein: Ein bisschen schon. Ganz erreichen werden wir es nie, aber es sollte ein Leitmotiv sein. Die Wissenschaft ist auch in den drei Jahren weiter gekommen. Dennoch sind vor allem die Kinder mit einer seltenen Krankheit nach wie vor die großen Verlierer in einem Gesundheitssystem, das sich immer mehr an Prinzipien der Profitabilität und Effizienzsteigerung orientiert.
Klein: Trotz der immensen Öffentlichkeitsarbeit vieler Verbände und Elterninitiativen ist das Schicksal von Kindern mit lebensbedrohlichen chronischen und komplexen Erkrankungen noch viel zu wenig im öffentlichen Bewusstsein. Jeder weiß, was Krebs bedeutet, was ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall ist, aber beim Thema Seltene Erkrankung zucken viele Mitbürger mit den Schultern.
Klein: Ja. Das Gesundheitssystem steckt viele Milliarden in die Bereiche der Medizin, in denen Geld verdient wird. Kinder mit Seltenen Erkrankungen leiden darunter. Zudem vernachlässigt das System die ganzheitliche Dimension - es geht schließlich um Menschen mit ihren Sorgen, Ängsten, Hoffnungen. Krankheit muss ganzheitlich gesehen werden, doch die psychosozialen Aspekte sind bei vielen Krankheiten im Gesundheitssystem gar nicht vorgesehen. Wir brauchen dringend Strukturreformen im deutschen Gesundheitswesen.
Klein: Vor zwei Jahrzehnten hat die Politik Wettbewerbsstrukturen nach marktwirtschaftlichen Prinzipien im Gesundheitswesen eingeführt. Es gab auch gute Gründe für Reformen. Aber wenn ich ein Gesundheitssystem ganz den Kräften des Marktes überlasse, gibt es immer Gewinner und Verlierer. Und es verlieren nicht immer die Schlechten, sondern unter Umständen die Schwachen – und das sind die Kinder mit seltenen chronischen Erkrankung. Die Idee der Klinikfinanzierung nach Fallpauschalen kommt aus Australien. Dort aber wurde sie nie auf Kinder mit Seltenen Erkrankungen angewandt. In meinen Augen liegt hier der größte Fehler im deutschen Gesundheitssystem.
Klein: Ihren Reflex höre ich nicht zum ersten Mal. Bei Kinderrechten denken viele erst mal an Menschrechtsverletzungen im Jemen oder Somalia. Aber es gibt auch Defizite in der deutschen Gesellschaft. So hat laut UN-Kinderrechtskonvention ein Kind ein Recht darauf, dass seine Eltern bei ihm sind. Im deutschen Sozialgesetz aber steht, dass die Krankenkassen maximal bis zum achten Geburtstag zahlen müssen, dass ein Elternteil im Krankenhaus bleiben kann. Das Recht auf Spielen, eine kindgerechte Umgebung ist in vielen Kinderkliniken nicht in ausreichendem Maße gegeben. Kinder haben auch das Recht, dass man kindgerecht mit ihnen Diagnose und Therapien bespricht. Doch die dafür notwendige Zeit wird nicht mehr gewährt.
Klein: Das Projekt wurde von Patientenorganisationen, auf europäischer und nationaler Ebene angestoßen. In Deutschland hat die Allianz Chronisch Seltener Erkrankungen, die ACHSE, maßgeblichen Einfluss ausgeübt. Die Etablierung von Zentren war eine sehr richtige Entscheidung, man muss jetzt aber auch Sorge dafür tragen, dass diese Zentren vernünftig arbeiten können und mit Ressourcen ausgestattet werden. Da ist zu viel noch von Spenden und freiwilligen Zuwendungen abhängig.
Klein: Es stimmt: Die Seltenen sind immer noch Waisen in der klinischen Versorgung, im Sozialrecht und in der Forschung. Wir müssen unterscheiden zwischen der industriellen Forschung, die letztlich neue Therapien entwickeln will und damit auch Geld verdienen muss. Und das ist ja auch nicht schlecht. Aber es gibt viele Anwendungsgebiete, in denen sich eine unternehmerische Forschung niemals wird rechnen kann. Hier müssen wir die universitäre Forschung stärken. Die Innovation kommt häufig aus den Universitäten. Hier brauchen wir bessere Bedingungen, um jungen Wissenschaftlern und Ärzten die Möglichkeiten zu geben, besser voran zu kommen. Das ist aber angesichts der doppelten Verantwortung in Klinik und Wissenschaft nicht selbstverständlich.
Klein (lacht): Das würde ich gar nicht so negativ sehen. Gute Wissenschaftler lassen sich nicht von der Aussicht auf große Preise motivieren. Der große Teil der Grundlagenforschung geschieht, weil die Forscher wissen wollen, wie die Dinge funktionieren. Und daraus entwickeln sich Ideen für neue Therapien. Wir brauchen viel mehr Räume für Kreativität. Nur so können Forscher den Phänomenen von Krankheit auf den Grund gehen. Da brauchen wir keine Adoptiveltern, sondern gute Bedingungen und gute Vorbilder.
Klein: Absolut, da gibt es viele Beispiele, dass die Erkenntnisse aus Seltenen Erkrankungen für viele Volkskrankheiten eine hohe Relevanz haben. Der amerikanische Kinderarzt Ogden Bruton hatte einen Patienten, der 14-mal eine Lungenentzündung bekam. Er untersuchte sein Blut, begann zu forschen und stellte fest, dass sein Patient keine Antikörper im Blut hatte. 40 Jahre später entdeckte man die genetische Ursache dieser seltenen Erkrankung. Ein Schalter, der die Reifung von B Zellen steuert. Das hat andere Wissenschaftler auf die Idee gebracht, mit Hilfe einer medikamentösen Steuerung dieses Schalters Patienten zu behandeln, die zu viele B-Zellen im Blut haben. Und das sind Patienten mit Leukämien oder Lymphknotenkrebs. Daraus entstanden neue Therapien, die heute Patienten mit Krebs heilen können. Ausgangspunkt war die intensive Beschäftigung mit einem einzigen Patienten.
Klein: Ich bin Arzt und Wissenschaftler, kein Hellseher. Ich will auch keine unberechtigten Hoffnungen schüren. Wenn wir dank guter wissenschaftlicher Kooperationen auf globaler Ebene, im Schulterschluss mit Patientengruppen, Industrie und dem sozialen Sektor voranschreiten, werden Erkenntnisse weiter wachsen. Wahrscheinlich werden wir in zehn Jahren den Großteil Ser seltenen Erkrankungen auf genetischer Ebene erklären können, heilen können wir sie dadurch noch nicht. Dafür brauchen wir eine Welle der Solidarisierung mit den Waisen der Medizin auf vielen Ebenen. Die Gesellschaft muss informiert werden, jeder kann etwa durch Spenden dazu beitragen, dass Kinder mit seltenen Krankheiten besser behandeln werden können.