zurück
München
Kinderrechte müssen auch in Deutschland gestärkt werden
Der Chef der Münchner Kinderklinik engagiert sich für Kinder mit Seltenen Erkrankungen. Er fordert eine Reform im Gesundheitswesen und die Einhaltung der UN-Kinderrechte.
Prof. Christoph Klein, Leiter der Kinderpoliklinik am Haunerschen Kinderspital der Universitätsklinik  München.
Foto: Andreas Steeger | Prof. Christoph Klein, Leiter der Kinderpoliklinik am Haunerschen Kinderspital der Universitätsklinik  München.
Folker Quack
 |  aktualisiert: 03.12.2019 08:59 Uhr
Frage: Ende 2015 haben Sie bei einer Ausstellungseröffnung gesagt: "Kein Kind darf mehr sterben, weil seine Krankheit so selten ist, dass sich Forschung und Arzneimittelhersteller nicht dafür interessieren." Sind wir heute, Anfang 2019 diesem Ziel ein bisschen näher gekommen?

Christoph Klein: Ein bisschen schon. Ganz erreichen werden wir es nie, aber es sollte ein Leitmotiv sein. Die Wissenschaft ist auch in den drei Jahren weiter gekommen. Dennoch sind vor allem die Kinder mit einer seltenen Krankheit nach wie vor die großen Verlierer in einem Gesundheitssystem, das sich immer mehr an Prinzipien der Profitabilität und Effizienzsteigerung orientiert.

Was können wir tun, um diesen Kindern besser zu helfen?

Klein: Trotz der immensen Öffentlichkeitsarbeit vieler Verbände und Elterninitiativen ist das Schicksal von Kindern mit lebensbedrohlichen chronischen und komplexen Erkrankungen noch viel zu wenig im öffentlichen Bewusstsein. Jeder weiß, was Krebs bedeutet, was ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall ist, aber beim Thema Seltene Erkrankung zucken viele Mitbürger mit den Schultern.

Ist unser Gesundheitssystem zu sehr am wirtschaftlichen Erfolg orientiert und leiden darunter vor allem Patienten mit Seltenen Erkrankungen?

Klein: Ja. Das Gesundheitssystem steckt viele Milliarden in die Bereiche der Medizin, in denen Geld verdient wird. Kinder mit Seltenen Erkrankungen leiden darunter. Zudem vernachlässigt das System die ganzheitliche Dimension - es geht schließlich um Menschen mit ihren Sorgen, Ängsten, Hoffnungen. Krankheit muss ganzheitlich gesehen werden, doch die psychosozialen Aspekte sind bei vielen Krankheiten im Gesundheitssystem gar nicht vorgesehen. Wir brauchen dringend Strukturreformen im deutschen Gesundheitswesen.

Was sind Seltene Erkrankungen?
Vier Millionen Menschen in Deutschland leiden Schätzungen zufolge an einer seltenen Erkrankung. Auf ihr Schicksal macht der internationale «Tag der Seltenen Erkrankungen» am 28. Februar aufmerksam. In Deutschland sind zahlreiche Aktionen geplant, unter anderem in Hannover, Leipzig und Ulm. Eine Krankheit gilt als selten, wenn von 10 000 Menschen weniger als fünf darunter leiden.
Ist hier die Politik gefragt?

Klein: Vor zwei Jahrzehnten hat die Politik Wettbewerbsstrukturen nach marktwirtschaftlichen Prinzipien im Gesundheitswesen eingeführt. Es gab auch gute Gründe für Reformen. Aber wenn ich ein Gesundheitssystem ganz den Kräften des Marktes überlasse, gibt es immer Gewinner und Verlierer. Und es verlieren nicht immer die Schlechten, sondern unter Umständen die Schwachen – und das sind die Kinder mit seltenen chronischen Erkrankung.  Die Idee der Klinikfinanzierung nach Fallpauschalen kommt aus Australien. Dort aber wurde sie nie auf Kinder mit Seltenen Erkrankungen angewandt. In meinen Augen liegt hier der größte Fehler im deutschen Gesundheitssystem.

Die Direktoren der deutschen Universitätskinderkliniken planen einen Kindergesundheitsgipfel, um der Frage nachzugehen, was sich im deutschen Gesundheitssystem ändern muss, um den Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention zu erfüllen. Bei UN-Konventionen denke ich eher an wenig entwickelte Länder. Wo ist hier in Deutschland Nachholbedarf?

Klein: Ihren Reflex höre ich nicht zum ersten Mal. Bei Kinderrechten denken viele erst mal an Menschrechtsverletzungen im Jemen oder Somalia. Aber es gibt auch Defizite in der deutschen Gesellschaft. So hat laut UN-Kinderrechtskonvention ein Kind ein Recht darauf, dass seine Eltern bei ihm sind. Im deutschen Sozialgesetz aber steht, dass die Krankenkassen maximal bis zum achten Geburtstag zahlen müssen, dass ein Elternteil im Krankenhaus bleiben kann. Das Recht auf Spielen, eine kindgerechte Umgebung ist in vielen Kinderkliniken nicht in ausreichendem Maße gegeben. Kinder haben auch das Recht, dass man kindgerecht mit ihnen Diagnose und Therapien bespricht. Doch die dafür notwendige Zeit wird nicht mehr gewährt.

Was halten Sie von dem Nationalen Aktionsbündnis Seltene Erkrankungen (NAMSE), durch das wir vernetzte Zentren für Seltene Krankheiten bekommen haben?

Klein: Das Projekt wurde von Patientenorganisationen, auf europäischer und nationaler Ebene angestoßen. In Deutschland hat die Allianz Chronisch Seltener Erkrankungen, die ACHSE, maßgeblichen Einfluss ausgeübt. Die Etablierung von Zentren war eine sehr richtige Entscheidung, man muss jetzt aber auch Sorge dafür tragen, dass diese Zentren vernünftig arbeiten können und mit Ressourcen ausgestattet werden. Da ist zu viel noch von Spenden und freiwilligen Zuwendungen abhängig.

Aber auch bei den Forschern sind die Seltenen Waisen der Medizin. Wie kann es gelingen, auch die Forschung mehr für die Seltenen Krankheiten zu interessieren?

Klein: Es stimmt: Die Seltenen sind immer noch Waisen in der  klinischen Versorgung, im Sozialrecht und in der Forschung. Wir müssen unterscheiden zwischen der industriellen Forschung, die letztlich neue Therapien entwickeln will und damit auch  Geld verdienen muss. Und das ist ja auch nicht schlecht. Aber es gibt viele Anwendungsgebiete, in denen sich eine unternehmerische Forschung niemals wird rechnen kann. Hier müssen wir die universitäre Forschung stärken. Die Innovation kommt häufig aus den Universitäten. Hier brauchen wir bessere Bedingungen, um jungen Wissenschaftlern und Ärzten die Möglichkeiten zu geben, besser voran zu kommen. Das ist aber angesichts der doppelten Verantwortung in Klinik und Wissenschaft nicht selbstverständlich.

Und wenn sie Zeit haben, möchten sie doch eher dort forschen, wo Lorbeeren zu verdienen sind. Was halten Sie von der Idee, dass Forscher eine ihrem Forschungsgebiet ähnelnde Seltene Erkrankung quasi adoptieren müssen. Die Waisen bekämen dann wenigstens Adoptiveltern.

Klein (lacht): Das würde ich gar nicht so negativ sehen. Gute Wissenschaftler lassen sich nicht von der Aussicht auf große Preise motivieren. Der große Teil der Grundlagenforschung geschieht, weil die Forscher wissen wollen, wie die Dinge funktionieren. Und daraus entwickeln sich Ideen für neue Therapien. Wir brauchen viel mehr Räume für Kreativität. Nur so können Forscher den Phänomenen von Krankheit auf den Grund gehen. Da brauchen wir keine Adoptiveltern, sondern gute Bedingungen und gute Vorbilder.

Können Fortschritte bei Seltenen Erkrankungen auf sogenannte Volkskrankheiten übertragen werden?

Klein: Absolut, da gibt es viele Beispiele, dass die Erkenntnisse aus Seltenen Erkrankungen für viele Volkskrankheiten eine hohe Relevanz haben. Der amerikanische Kinderarzt Ogden Bruton hatte einen Patienten, der 14-mal eine Lungenentzündung bekam. Er untersuchte sein Blut, begann zu forschen und stellte fest, dass sein Patient keine Antikörper im Blut hatte. 40 Jahre später entdeckte man die genetische Ursache dieser seltenen Erkrankung. Ein Schalter, der die Reifung von B Zellen steuert. Das hat andere Wissenschaftler auf die Idee gebracht, mit Hilfe einer medikamentösen Steuerung dieses Schalters Patienten zu behandeln, die zu viele B-Zellen im Blut haben. Und das sind Patienten mit Leukämien oder Lymphknotenkrebs. Daraus entstanden neue Therapien, die heute Patienten mit Krebs heilen können. Ausgangspunkt war die intensive Beschäftigung mit einem einzigen Patienten.

Würden Sie einen Ausblick wagen, wo wir bezüglich der Seltenen Erkrankungen in zehn Jahren stehen?

Klein: Ich bin Arzt und Wissenschaftler, kein Hellseher. Ich will auch keine unberechtigten Hoffnungen schüren. Wenn wir dank guter wissenschaftlicher Kooperationen auf globaler Ebene, im Schulterschluss mit Patientengruppen, Industrie und dem sozialen Sektor voranschreiten, werden Erkenntnisse weiter wachsen. Wahrscheinlich werden wir in zehn Jahren den Großteil Ser seltenen Erkrankungen auf genetischer Ebene erklären können, heilen können wir sie dadurch noch nicht. Dafür brauchen wir eine Welle der Solidarisierung mit den Waisen der Medizin auf vielen Ebenen. Die Gesellschaft muss informiert werden, jeder kann etwa durch Spenden dazu beitragen, dass Kinder mit seltenen Krankheiten besser behandeln werden können.

Prof. Christoph Klein und die Care-for-Rare Stiftung
Seit vielen Jahren engagiert sich der Kinderarzt und Kinder-Onkologe, Professor Christoph Klein, für die "Waisen der Medizin". Das sind die Seltenen Krankheiten und Professor Klein hat vor allem die Kinder mit Seltenen Krankheiten im Blick.  Klein gründete die Care-for-Rare Foundation, damit Kinder mit seltenen Erkrankungen schneller Zugang zu einer modernen genetischen Diagnostik und zu innovativen Therapieverfahren erhalten können. Die Care-for-Rare Foundation kooperiert mit einem internationalen Netzwerk von Ärzten und Wissenschaftlern. Die Förderung der klinischen Forschung erfolgt derzeit mit einem besonderen Schwerpunkt auf Krankheiten des Blutes und des Immunsystems. Care-For-Rare sammelt Spenden und möchte die Seltenen Krankheiten besser in Bewusstsein der Gesellschaft bringen. Der Würzburger Jörg Richter radelt für die Stiftung so Klein "quer durch die halbe Welt", um die Seltenen besser ins Bewußtsein zu bringen.  Klein ist seit 2011 Leiter der Universitäts-Kinderklinik an der Universitätsklinik München. Er ist Sprecher der deutschen Forschungsverbünde zu Seltenen Erkrankungen.  
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Folker Quack
Behandlungen
Blut
Christoph Klein
Gesundheitssystem
Gesundheitssystem in Deutschland
Kinderrechte
Kinderärzte
Klinische Medizin
UN-Kinderrechtskonvention
Volkskrankheiten
Waisen
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen