Der Mann, der das Chaos am Berliner Flughafen geordnet hat, beherrscht die große Dimension. Olympische Spiele – die sollte er nach Leipzig holen, seiner alten Wirkungsstätte. Engelbert Lütke Daldrup sagt: „Wir hatten 80 bis 90 Prozent Zustimmung. Eine Volksabstimmung wie in München hätten wir nicht verloren.“ Und doch galt es in den frühen Jahren des neuen Jahrtausends als größenwahnsinnig – Olympia in Leipzig. Die Spiele gehörten eher in Weltstädte wie Paris, Tokio, London, Moskau oder Berlin, war ein häufiger Einwand.
In der deutschen Hauptstadt wurde zur gleichen Zeit intensiv an den Planungen eines neuen Flughafens gearbeitet. Berlin entschied sich für Größenwahn. Aus ästhetischen Gründen nahmen es der Baumeister Meinhard von Gerkan und seine Leute mit der Physik auf. Sie platzierten die Entrauchungsanlage am Boden und nicht an der Decke. Dorthin steigt aber heißer Qualm, wenn es brennt. Die Entrauchungsanlage trieb Heerscharen von Technikern in den Wahnsinn. Monster wurde sie deshalb getauft.
Der Spott hat an Härte verloren
Lütke Daldrup, seit 2017 Flughafenchef am BER, hat es gezähmt. Nach Jahren des Dilettantismus, der kolossalen Schlamperei und haarsträubender Fehler hat er etwas geschafft, womit keiner mehr in Berlin gerechnet hätte. Das Schimpfen über die Unfähigkeit hat aufgehört, der Spott hat an Härte verloren. Vorsichtig macht sich der Glaube breit, dass es noch etwas werden könnte mit dem neuen Flughafen in Schönefeld. Im Herbst nächsten Jahres sollen die ersten Maschinen hier starten und landen. Neun Jahre später als ursprünglich geplant. Bei einem Termin vergangene Woche betont er: „Die Terminziele sind stabil und die Eröffnung im Oktober 2020 ist nicht gefährdet.“
Wie hat es der 62-Jährige angestellt, woran zuvor ein halbes Dutzend Flughafen- und Technikchefs gescheitert waren?
Christian Gräff ist CDU-Obmann im Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses zur Endlosbaustelle. Er ist qua Amt der oberste Kritiker Lütke Daldrups. Die beiden kennen sich von früher. „Er ist ein Sachlicher, ein Abarbeiter. Er hat sich damals sehr kleinteilig eingearbeitet“, erzählt Gräff über die gemeinsame Zeit. Lütke Daldrup krempelte die verunsicherte Flughafengesellschaft um, ordnete Verantwortlichkeiten neu und erreichte damit, dass sich nicht weiter im Wochenrhythmus nach grotesken Fehlern der Hohn der gesamten Republik über seine Mitarbeiter ergoss.
Den Airlines noch kein festes Datum genannt
„Drängelbert“ lautet sein Spitzname bei seinen Beamtenkollegen. Im Jahr des Mauerfalls fing der Stadtplaner in der Berliner Bauverwaltung an. Er stammt aus dem Münsterland, wo einst das Erbe des Bauern Daldrup geteilt werden musste. Da wurden daraus der Große Daldrup und der Lütke Daldrup. Lütke steht für klein, weil ein Erbe einen kleineren Teil bekam.
Flughafen-Untersucher Gräff bleibt dennoch skeptisch, ob am BER die Tore wirklich in 14 Monaten aufgemacht werden und aus dem kleinen der große Daldrup wird. Der Bau sei halt sehr komplex, eine böse Überraschung könne überall lauern. „Ich höre von der Baustelle, dass die Probleme teilweise größer statt kleiner würden. Den Airlines hat er übrigens noch kein festes Datum genannt“, berichtet der CDU-Mann. Für ihn macht der Flughafenchef derzeit so viel Wind, weil in Brandenburg in drei Wochen ein neuer Landtag gewählt wird. Dort kämpft die SPD um die Macht und der Genosse Lütke Daldrup will mithelfen, dass die Partei weiter an der Macht bleibt.
Langsam kehrt Lebenein
Im Südosten Berlins, wo die Stadt ihre Dichte verliert und ausfasert, sieht alles so aus, als könne es schon nächsten Monat losgehen. Der Rasen ist gemäht, die Parkhäuser gefegt und die Inneneinrichtung vieler Geschäfte im riesigen Terminal schon ausgepackt. Wenige Passagiere ziehen ihre Koffer hinter sich her über den Asphalt. Der Flughafen verdient Geld damit, dass Urlauber ihre Autos in die Parkhäuser stellen und dann im alten DDR-Flughafen Schönefeld in den Urlaub starten. Einige Fluglinien schulen bereits ihr Personal im Verwaltungstrakt, wie der Flughafensprecher nicht ohne Zufriedenheit berichtet. Langsam kehrt Leben ein in den großen Organismus, der lange Zeit ein Stillleben war.
Die Mängelliste, die ihn all die Jahre lähmte, ist legendär: zu kurze Rolltreppen, vergessene Brandmelder, unauffindbare Räume, Automatiktüren ohne Strom, kein Platz für Videokameras, Licht, das sich nicht ausschalten ließ, sogar die falschen Bäume landeten auf dem Vorplatz. Die Verlegung der Kabel verlief so desaströs, dass deren Entwirrung Millionen verschlungen hat. Wie Spaghetti unterschiedlicher Stärke wurden Starkstromleitungen mit anderen Kabeln verknotet. Geheime Akten landeten auf der Straße, für jeden einsehbar in zwei Containern. Damit sich im fertigen unterirdischen Bahnhof kein Schimmel ausbreitet, schickt die Bahn pro Tag mehrere Geisterzüge durch den Tunnel. Der BER braucht frische Luft.
Die wurschtigen Jahre mit Wowereit
Das Desaster am Flughafen steht sinnbildlich für die „Ist-mir-egal-Jahre“ unter Bürgermeister Klaus Wowereit. Arm, aber sexy – das war Berlin. Wenig funktionierte, trotzdem wollten alle dahin. Die Stadt galt unter ihrem Regierenden als die coolste des Kontinents. So stark Wowereit, der auf Promi-Partys Champagner aus High Heels trank, für internationalen Glanz sorgte, so wurschtig kümmerte er sich um sein wichtigstes Infrastrukturprojekt. „Wir werden beweisen, dass drei öffentliche Eigentümer so ein Projekt bauen können“, verkündete der SPD-Mann zum ersten Spatenstich im September 2006. Er sollte sich gewaltig irren. Die Länder Berlin und Brandenburg und der Bund mussten Milliarden nachschießen.
Der Bau lief völlig aus dem Ruder, eine wirksame Aufsicht war nicht gewährleistet. Zu Beginn kalkulierten die Bauherren mit insgesamt zwei Milliarden Euro, die ihr Prestigeprojekt kosten würde. Mittlerweile sind es 5,5 Milliarden Euro. Bis zur Fertigstellung dürfte es noch einmal eine Milliarde mehr sein. International ramponiert das Berliner Fiasko den Ruf Deutschlands als Land der Ingenieure. Die Auslandspresse reibt sich genüsslich die Hände. Manager müssen bei Geschäftsreisen in andere Länder erklären, warum es Deutschland nicht mehr hinbekommt.
Wie ein schwarzes Loch hat der Flughafen Geld verschlungen. Pro Monat kostet die Baustelle den Steuerzahler 35 Millionen Euro. Für das bislang eingesetzte Geld bekäme die Politik umgerechnet 6,7 Millionen Kindergartenplätze oder hätte den bestehenden Flughafen Tegel ein halbes Jahrhundert weiterbetreiben können, wie eine Website zur Geldverschwendung durch den BER errechnet.
Fehlende Sorgfalt bei der technischen Planung
Zu all den unglaublichen Begebenheiten gehört, dass der Stararchitekt Gerkan, der am BER versagte, seinen Ruhm ausgerechnet mit dem Bau von Tegel begründete. Gerkans kühne Architekturträume und die fehlende Sorgfalt bei der technischen Planung haben einen großen Anteil daran, dass die Eröffnung bislang fünf Mal geplatzt ist. Beim zweiten Termin im Jahr 2012 sollte mit stolzen 40 000 Gästen gefeiert werden.
Nun also Oktober 2020. Der amtierende Flughafenchef ist sich sicher. Lütke Daldrup ist kein Spieler. Er weiß, dass sich seine Vorgänger allesamt in die Nesseln gesetzt und mächtig blamiert haben. Die Kiste Wein, die er verwettet hat, wäre das kleinste Opfer. Jetzt noch der Kampf um die Dübel. Mit ihnen sind über Kilometer Kabel in Schächten und an Wänden befestigt. Sie müssen halten, auch wenn es brennt. Und es geht darum, ob die Behörden eine Genehmigung dafür geben, denn mittlerweile haben sich die Vorschriften geändert. Der Flughafenchef will darin kein hohes Hindernis erkennen.
Wie zum Beweis dafür, dass er im Plan liegt, hat er die Flugbereitschaft der Bundeswehr eingeladen, schon vor dem offiziellen Anlaufen des Betriebs das Regierungsterminal in Beschlag zu nehmen. Die Luftwaffe könne im ersten Halbjahr 2020 einziehen. Nur Möbel müssten noch bestellt werden.
Künstlicher Rauch und Hitze
Derzeit ist der Tüv im riesigen Terminal 1 zugange. Zwischen 20 und 30 Prüfer unterziehen die sensible Sicherheitstechnik „Wirk-Prinzip-Prüfungen“, kurz WPP. Es geht zum Beispiel um das Zusammenspiel von Brandmeldeanlage, Entrauchung und Notstromversorgung in verschiedenen Katastrophenszenarien. Einzeln sind die Anlagen schon abgenommen. Der Tüv erzeugt künstlichen Rauch und Hitze oder simuliert einen Stromausfall. 41 Tage läuft dieser Großtest. Besteht ihn der Flughafen, gewinnt der Eröffnungstermin deutlich an Plausibilität.
Dann kann Lütke Daldrup zum Impresario aufsteigen. In großen Generalproben mit tausenden Komparsen plant er den Praxistest. Funktioniert die Gepäckabfertigung? Finden Reisende den Weg, wenn der Abflug an ein anderes Gate verlegt wird? 20 000 Komparsen will der Flughafenchef anheuern. Schon einmal übten tausende Berliner und Brandenburger am Flughafen. Das war im Winter 2012.
Wenn es dieses Mal keine weitere Verschiebung gibt, wird der Betrieb innerhalb von zwei bis drei Wochen von Tegel nach Schönefeld umziehen. Noch ein halbes Jahr wird Berlins alter Airport betriebsbereit vorgehalten. Theoretisch könnte dort weiter geflogen werden. Für alle Fälle, falls das Monster noch einmal aufwacht.
Istanbul und Peking: Zwei Gegenbeispiele zum Berliner Pannenflughafen
Während der Berliner Hauptstadtflughafen seit Jahren Negativschlagzeilen produziert und die Eröffnung bisher fünf Mal verschoben werden musste, zeigen andere Länder, dass sie solche Großprojekte deutlich schneller umsetzen können. Zwei Beispiele:
Istanbul: Im April ging in der Türkei der ganze Stolz von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in Betrieb. Der neue Mega-Flughafen mit dem einfachen Namen „Istanbul“ (Baukosten 25 Milliarden Dollar) soll nach dem Endausbau der weltgrößte sein. Auf sechs Startbahnen sollen bis zu 200 Millionen Passagiere im Jahr starten und landen und die Bosporus-Metropole so zu einem der weltweit wichtigsten Drehkreuze im Flugverkehr werden – in einer Liga mit London, Hongkong, Singapur oder Dubai. Ein Konsortium aus regierungsnahen Unternehmen hat den Bau binnen vier Jahren mit rund 40 000 Arbeitern aus dem Boden gestampft – und zwar unter teils skandalösen Bedingungen, wie Gewerkschaften beklagen. Nach Recherchen einer Oppositionszeitung kamen bis zu 400 Arbeiter ums Leben; die Regierung spricht von rund 50 Todesopfern.
Peking: Der neue Flughafen Beijing-Daxing soll pünktlich Ende September 2019 eröffnet werden. Und während sich Berlin bald im 13. Jahr mit seiner Flughafen-Baustelle quält, hat Peking diesen Mega-Airport innerhalb von nur viereinhalb Jahren bauen lassen. Kostenpunkt: umgerechnet zehn Milliarden Euro. Entstanden ist einer der größten Flughafen der Welt, der in einer ersten Ausbaustufe 45 Millionen Passagiere im Jahr abfertigen kann, 2020 soll die Zahl auf 100 Millionen steigen. Zum Vergleich: Der BER ist mit dem zweiten Terminal, für das zuletzt Richtfest gefeiert wurde, auf anfangs 30 Millionen Fluggäste angelegt, maximal sollen es 50 Millionen sein. China baut derzeit rund sieben neue Flughäfen pro Jahr, die meisten davon in Eigenregie.
Susanne Güsten und Finn Mayer-Kuckuk