CDU und SPD kämpfen um ihre Bedeutung. Dahinter steckt ein tiefer Gesellschaftswandel, sagt der Soziologe Andreas Reckwitz. Er erklärt, warum die Mitte so schwer zu verorten ist und wie er den Sündenfall von Thüringen einschätzt
Andreas Reckwitz: Da muss man noch ein bisschen abwarten, um das richtig einschätzen zu können. Im internationalen Vergleich ist dieser Tag der Ministerpräsidentenwahl von Erfurt doch von begrenzterer Reichweite, würde ich vermuten. Ereignisse werden medial oft dramatisiert. Ich versuche, mit soziologischer Perspektive eine gewisse Distanz reinzubringen.
Reckwitz: Interessant ist, wenn sich ereignishaft etwas zuspitzt, was auf einen grundsätzlichen strukturellen Wandel verweist, der sonst nicht so einfach sichtbar wird.
Reckwitz: Die Krise der großen Volksparteien. Bei der SPD beobachten wird diese schon seit Jahren, nun auch deutlich bei der CDU. Wie will diese sich künftig positionieren? Die große Frage ist, in welche politische Richtung sie gehen will und auf welche Segmente der Gesellschaft sie sich stützen will. Dieser Konflikt hat sich jetzt in der Rücktrittsankündigung von Frau Kramp-Karrenbauer niedergeschlagen.
Reckwitz: Hinter der Krise der Volksparteien steckt ein grundlegender sozialstruktureller Wandel, der sich auch in neuen politischen Konfliktlinien manifestiert. Die durchziehen CDU und SPD, bringen sie in eine besondere Situation.
Reckwitz: Prognosen sind schwierig. Aber die politischen Konfliktlinien haben sich in den letzten Jahren eben verschoben. Wir sind in unserer Wahrnehmung teilweise ja immer noch von der klassischen Links-Rechts-Wahrnehmung geprägt. Aber politische Konfliktlinien sind historisch-dynamisch. Die verändern sich. Und heute haben wir eine neue, die quer zum klassischen Links-Rechts verläuft: Auf der einen Seite ein Wertecluster, das im weitesten Sinne liberal, ökonomisch liberal, kulturell liberal, globalisierungsfreundlich ist, auf Entgrenzung setzt. Auf der anderen Seite haben wir ein kommunitarisches, also gemeinschaftsorientiertes Wertecluster, das stärker globalisierungsskeptisch ist, eher auf den nationalen Rahmen schaut, auf die nationale Steuerung von Kultur und Wirtschaft. Das ist die neue politische Polarität, die sich massiv im Parteiensystem niederschlägt.
Reckwitz: Das Lehrbuchbeispiel ist Frankreich, wo sich Macrons liberale République en Marche und der rechtspopulistische Rassemblement National gegenüberstehen. Aber hinter diesen politischen Konfliktlinien steckt eben ein tief greifender sozialstruktureller Wandel.
Reckwitz: Die alte Industriegesellschaft der 50er, 60er und 70er Jahre gibt es längst nicht mehr. Heute haben wir – unter einer kleinen Oberschicht – eine aufsteigende neue Mittelklasse, entstanden durch die Akademisierung, durch Bildungsexpansion, auch durch die Postindustrialisierung der Wirtschaft. Eine Klasse, die sich vor allem in den Metropolregionen ansiedelt. Dann gibt es eine absteigende prekäre Schicht und schließlich die traditionelle Mittelklasse. Die aber schrumpft in ihrem Umfang und ihrer Bedeutung.
Reckwitz: Ein Vertreter der neuen Mittelklasse wäre zum Beispiel ein Informatiker, eine Lehrerin oder eine Juristin. Leute, die eine Hochschulausbildung haben, überdurchschnittlich in den Metropolregionen leben, sich als eins sehen mit dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess, die sich als Träger der Globalisierung sehen. Sie befürworten Internationalisierung und Liberalisierung – die Gleichberechtigung der Geschlechter zum Beispiel. Es ist ein Milieu, das von jüngeren Leuten Zulauf bekommt.
Reckwitz: Die ist eher bei den mittleren Bildungsabschlüssen anzusiedeln. Das können Facharbeiter sein oder kleine Angestellte, die ökonomisch häufig durchaus gut dastehen, zugleich aber sehr viel stärker im kleinstädtischen und ländlichen Bereich beheimatet und – im Gegenteil zur neuen Mittelschicht – auch eher sesshaft sind. Man bleibt am gleichen Ort, ist da verwurzelt. Und ist gegenüber bestimmten Modernisierungs- oder Liberalisierungsprozessen der vergangenen Jahrzehnte deutlich skeptischer eingestellt.