Manchmal haben sich auch erfahrene Politiker nicht im Griff. Als Karl Lauterbach den Besprechungsraum 1.302 des Jakob-Kaiser-Hauses direkt neben dem Reichstagsgebäude betritt, entgleisen ihm für einen Moment die Gesichtszüge. Nur eine Handvoll Journalisten hat sich in dem Raum eingefunden, in dem ansonsten Fraktionssitzungen und andere Besprechungen stattfinden. Sehr groß ist das Interesse an Lauterbachs Einschätzung zum Klimapaket der Bundesregierung und der Zukunft der Großen Koalition nicht.
Lauterbach hat Nina Scheer mitgebracht. Sie ist seine Co-Kandidatin im Bewerbungsmarathon um die neue SPD-Doppelspitze. Scheer ist Expertin für Umweltschutz und Energiepolitik und weiß eine ganze Menge über diese Themen. Es ist ihr ein Leichtes, das erst ein paar Tage alte „Klimaschutzprogramm“ der Bundesregierung in der Luft zu zerreißen. „Nicht akzeptabel“ wäre es, wenn die beschlossenen Maßnahmen so durch den Bundestag kämen, sagt die 47-Jährige. Scheer redet sehr lange. Ein Kameramann wird später mosern, er wisse gar nicht, wie er das ganze Material schneiden solle. Wer Scheer und anschließend Lauterbach zuhört, fühlt sich an die langatmigen Regionalkonferenzen der SPD erinnert. Von den 23 Terminen sind 20 rum, es stehen noch drei in Duisburg, Dresden und München an. Dann ist Schluss und die Mitgliederbefragung startet. „Endlich ist das vorbei, 23 Termine waren doch zu viel“, stöhnt eine Funktionärin.
Kandidaten kaum unterscheidbar
Das Problem ist, dass die Kandidaten mit zunehmender Dauer des Auswahlverfahrens nicht unterscheidbarer werden. Im Gegenteil. „Ich weiß gar nicht mehr, wer genau welche Positionen vertritt“, sagt ein langjähriges SPD-Mitglied. Auch die Kandidaten haben angeblich keine Anhaltspunkte, wo sie stehen. „Das ist sehr spannend, weil wir nicht wissen, was die Mitglieder denken“, sagt Karl Lauterbach.
Das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ hat einen „gewissen Lagerkoller“ bei den SPD-Kandidaten beschrieben, Lauterbach weist das zurück. Der Umgang der sieben Teams miteinander sei „sportlich und locker“, sagt der SPD-Gesundheitsexperte. Doch von Harmonie, selbst wenn es sie zu Beginn gab, kann kaum noch die Rede sein. Kurz vor Ende der Kandidatenkür haben offenbar einige der Bewerber Angst, dass sie nicht ausreichend in den Köpfen der Mitglieder verankert sind. Sie schauen auf die Umfragen, die es natürlich gibt und die im Moment Olaf Scholz und Klara Geywitz, Petra Köpping und Boris Pistorius, Michael Roth und Christina Kampmann sowie Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans vorne sehen. Um noch eine Chance zu haben, holen die Schlusslichter im Endspurt den großen Hammer raus.
Kühnert mischt sich ein
Ralf Stegner etwa, der zusammen mit Gesine Schwan kandidiert, hat Olaf Scholz ins Visier genommen. Die Vorschläge des Bundesfinanzministers zur Steuer- und Sozialpolitik seien altbacken, lässt der SPD-Fraktionsvorsitzende im schleswig-holsteinischen Landtag durchblicken. Lauterbach und Scheer nehmen die Maximalposition ein: Die Große Koalition sei es „nicht wert, weitergeführt zu werden“, sagen sie. Die „gesamtpolitischen Kosten seien zu hoch“. Wo die eigene Zugkraft nicht reicht, müssen Mehrheitsbeschaffer her. Zum Königsmacher könnte Juso-Chef Kevin Kühnert avancieren. Er ist eine wichtige Nummer im Spiel, weil er die jungen Parteimitglieder hinter sich versammelt. Eine ähnliche Funktion hatte Paul Ziemiak bei der CDU. Als Chef der Jungen Union stützte er Annegret Kramp-Karrenbauer und wurde anschließend von der neuen Parteichefin zum CDU-Generalsekretär befördert.
Kampf um die Macht
Kühnert hat sich bereits für den ehemaligen NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans und die Bundestagsabgeordnete Saskia Esken ausgesprochen. Postwendend wurde in Berlin gestreut, Walter-Borjans habe Kühnert den Posten des Generalsekretärs versprochen, wenn er zum SPD-Chef gewählt werde. Kühnert würde, wenn sich dieses Gerücht bewahrheitet, ein mächtiger Mann in der Partei. Denn die SPD will die Funktionen von Bundesgeschäftsführer und Generalsekretär zusammenführen sowie gleichzeitig die gesamte Führungsstruktur straffen. Die Nerven jedenfalls sind angespannt. Parteikreise bestätigen einen „Spiegel“-Bericht über lautstarke Auseinandersetzungen während einer Telefonkonferenz der SPD-Spitze. Stegner, dessen Chancen ebenfalls überschaubar sind, beklagte sich jüngst darüber, dass Juso-Chef Kevin Kühnert ihn ignoriere – und er steht damit nicht alleine. „Kevin Kühnert spricht mit uns auch nicht mehr“, sagt Karl Lauterbach, der mit unschuldigem Augenaufschlag über „Rückmeldungen von Juso-Mitgliedern“ berichtet, die sich darüber wundern würden, wie stark sich Kühnert in den Kandidatenprozess einmische „obwohl er selber nicht kandidiert“.
Ob da was dran ist? Die Jusos in Bayern folgen ihrem Vorsitzenden Kühnert, sie haben sich ebenfalls auf Esken und Walter-Borjans festgelegt. Ausschlaggebend waren demnach rein „inhaltliche Gründe“. Fest steht: Das schöne Bild von der harmonischen SPD-Kandidatenkür hat Risse bekommen. Es geht ganz offensichtlich nicht mehr nur um die beste Vorsitzende oder den besten Vorsitzenden, auch nicht vorrangig um Inhalte. Es geht um das, was der SPD unter ihrer Ex-Vorsitzenden Andrea Nahles schon zum Verhängnis wurde – den Kampf um die Macht.