Erst als bayerischer Ministerpräsident, dann als Bundesinnenminister kritisierte Horst Seehofer Merkels Politik massiv. Heute versucht er, Europa zu einer gemeinsamen Strategie zu bewegen und setzt sich für humanitäre Lösungen ein. Ein Gespräch über das, was Deutschland geschafft hat und sein eigenes Bild in den Geschichtsbüchern.
Seehofer, vor fünf Jahren hat die Bundeskanzlerin den wohl berühmtesten Satz zur Flüchtlingskrise gesagt: „Wir schaffen das.“ Und jetzt? Haben wir es geschafft?
Horst Seehofer: Wir haben Ordnung geschaffen und gleichzeitig Humanität praktiziert. Die Situation ist heute anders als vor fünf Jahren, als wir stellenweise Kontrollverluste erleben mussten. Wir wissen jetzt, wer im Land ist. Wir haben Zuwanderungszahlen, die wieder verkraftbar sind. Aber ich bleibe dabei: Wir brauchen eine europäische Antwort auf die Migrationsfrage. Dieses Thema wird uns noch viele Jahre begleiten.
Seehofer: Ich verstehe, worauf Sie hinaus wollen. Aber wir stehen in Deutschland momentan vor gigantischen Herausforderungen. In einer solchen Zeit blickt man nicht zurück, sondern nur nach vorne.
Seehofer: Wissen Sie, ich habe jetzt im Urlaub wie immer einige alte Freunde getroffen. Da haben wir auch über diese Situation gesprochen. In dem Moment, als ich da stand, dachte ich eigentlich, es läuft sehr gut. Angela Merkel stand halblinks hinter mir. Im ersten Teil meiner Rede habe ich sie sehr, sehr gelobt. Und dann musste ich natürlich auch das Flüchtlingsthema ansprechen, das ja ganz aktuell war. Und ich habe ihr gesagt, dass wir darüber reden müssen. Als ich von der Bühne ging, war ich eigentlich recht zufrieden.
Seehofer: Ich komme zurück auf meinen Platz und dann sagt mir mein Sitznachbar: „Das wird morgen nicht gut laufen in der Presse.“ Ich wusste erst gar nicht, was er meint. Aber er hatte eben den anderen Blickwinkel. Er hatte die Mimik von Angela Merkel hinter mir gesehen. Ich selber hatte das ja gar nicht mitbekommen. In den Zeitungen wurde dann geschrieben, ich hätte die Kanzlerin wie ein Schulmädchen dastehen lassen. Das war aber überhaupt nicht meine Absicht.
Seehofer: Sie war etwas erkältet und ist sofort abgereist. Zum Abschied sagte sie: Ich rufe Dich morgen an.
Seehofer: Ja, aber wir haben nie mehr darüber gesprochen. Es gehört doch in der Politik dazu, dass man auch mal unterschiedlicher Meinung ist. Aber so etwas hält man sich nicht ewig vor. Angela Merkel und ich haben vorher und nachher sehr gut zusammengearbeitet. Das tun wir seit vielen Jahren.
Seehofer: Es ging in diesem Gespräch nicht um den konkreten Fall, sondern darum, dass manche Momente in der Politik öffentlich beurteilt werden und Sie nichts tun können, um ein schiefes Bild wieder geradezurücken. Es hat für die Geschichten halt alles so schön gepasst: Seehofer, Merkel, Schulmädchen – das beschreibt eben die Fotoaufnahmen, die durch die Medien gingen, so wunderbar. Da interessiert es irgendwann kaum jemanden mehr, ob es wirklich so war.
Seehofer: Ich habe gerade ein Büchlein über König Ludwig II. gelesen, der gegenüber Freunden einmal gesagt hat: „Mein Leben, ein ewig Rätsel wird es bleiben.“ Ich finde, ein Politiker muss Haltung, Ecken und Kanten haben – und auch manche Rätsel aufgeben. Und dann wird eben alles Mögliche hineininterpretiert. Ich war für die Öffentlichkeit doch schon alles: Herz-Jesu-Sozialist, Wirtschaftsliberaler, Konservativer, Populist, Grünen-Anbiederer. Damit müssen Sie als Politiker leben. Ich bin sehr zufrieden.
Seehofer: Nein. Die Auswirkungen von Corona sind zwar momentan viel dramatischer, aber es gibt die begründete Hoffnung, dass wir den Kampf gegen dieses Virus überwinden werden. Die Migration wird uns hingegen als Folge der Globalisierung und der Klimaveränderung noch über Jahrzehnte beschäftigen.
Seehofer: Es ist sehr wichtig, dass wir die Corona-Krise wirtschaftlich gut bewältigen. Deshalb nehmen wir sehr viel Geld in die Hand, um hier die richtigen Antworten zu geben. Darüber hinaus müssen wir unser Leben so gestalten, dass Wirtschaft, Schule, Sport und Kultur möglich sind, ohne die Bekämpfung der Corona-Pandemie zu vernachlässigen.
Seehofer: Jetzt locken Sie mich doch wieder zurück ins Jahr 2015. Damals haben wir in der Bevölkerung nicht immer den Eindruck vermittelt, dass alles geordnet läuft, dass wir die Situation vollständig beherrschen. Jetzt hingegen haben die Menschen – bis zur Stunde jedenfalls – das Gefühl, dass die Regierung die Sache im Griff hat. Aber wir müssen jeden Tag daran arbeiten, dass das so bleibt.
Seehofer: Sie wird dauerhaft erst beherrschbar sein, wenn wir in Europa gemeinsam mehrere Pfeiler stabil aufgebaut haben. Erstens: Wir müssen die Herkunftsländer unterstützen, damit die Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive haben. Zudem brauchen wir Vereinbarungen mit diesen Ländern, dass sie ihre Bürger nach einer Rückführung wieder aufnehmen. Zweitens: Wir brauchen legale Wege der Zuwanderung nach Europa. Wenn jemand aus wirtschaftlichen Gründen kommen will und einen Arbeitsplatz nachweisen kann, muss das auch ohne den Umweg über das Asylrecht möglich sein. Wir haben in Deutschland das Fachkräfteeinwanderungsgesetz geschaffen, so etwas kann ich mir auch in Europa vorstellen. Wir haben ja auch einen Bedarf. Drittens: Wir müssen bereits an der Außengrenze der Europäischen Union dem Grunde nach entscheiden, ob jemand Aussicht auf einen Schutzstatus hat oder nicht. Diejenigen, die unseren Schutz offensichtlich nicht brauchen, müssen wir direkt zurückführen – dazu brauchen wir wiederum die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern. Damit wird auch der Anteil derer, die in Europa fair zu verteilen sind, im Vergleich zu heute deutlich geringer.
Seehofer: Wir werden alles dafür tun, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft einen deutlichen Schritt weiterzukommen. Ich weiß, die Zeit ist knapp. Aber viele Mitgliedstaaten trauen der deutschen Ratspräsidentschaft das zu und wir werden unseren Teil dazu beitragen. Wir müssen die Bedenken der Mitgliedsstaaten ernst nehmen, aber eben auch daran erinnern, dass Europa auch mehr Solidarität und weniger Egoismus braucht.
Seehofer: Die aktuelle Situation macht es natürlich nicht einfacher. Wir haben einerseits große Erfolge in der Integration erzielt. Aber es gibt es auch eine andere Seite, wo noch Handlungsbedarf besteht: Die jüngsten Ausschreitungen in mehreren deutschen Städten, an denen auch viele Menschen mit Migrationshintergrund beteiligt waren, zeigen das. Wir müssen uns bei der Integration noch mehr anstrengen.
Seehofer: . . . aber wir haben sie noch nicht nachhaltig gelöst.
Seehofer: Unser Potenzial liegt bei rund 40 Prozent. Die aktuellen Umfragen mit 35 Prozent zeigen also ein ehrliches Bild von der Zustimmung für die Union. Wir sind mit diesem Wert fast doppelt so stark wie die Grünen und die SPD. Wenn wir also weiterhin vernünftige Politik machen, kann ein Kanzlerkandidat davon ausgehen, dass er die nächste Regierung bilden wird.
Seehofer: Das ist schwer zu sagen. Ich war zehn Jahre in dem Amt, war vorher sehr lange in der Bundespolitik. Nach einer gewissen Zeit sollte man eine neue Aufgabe übernehmen. Bei mir kam das Lebensalter hinzu. Ein Parteifreund hat mir einmal gesagt: Der Unterschied zwischen Dir und Markus Söder ist das Alter. Und er hatte recht. Ich bin inzwischen über 70, da kämpft man nicht mehr um ein Amt, das man viele Jahre hatte, sondern versucht, den Übergang gut zu gestalten. Deshalb denke ich: Auch ohne das Jahr 2015 wäre vieles in Bewegung gekommen.
Seehofer: Die Kanzlerin hat mir die Frage gestellt: Kann ich mit Dir rechnen? Das habe ich bejaht. Das Amt des Bundesinnenministers ist außerdem sehr reizvoll.
Seehofer: Dieser angebliche große Konflikt zwischen uns wurde immer nur von den Medien herbeigeschrieben. Wäre unser Verhältnis wirklich so schwierig, wäre ich schon längst gegangen. Auf Gedeih und Verderb an einem Amt festhalten, das ist nicht meine Art. Angela Merkel und ich haben als Parteivorsitzende über viele Jahre gut miteinander gearbeitet. So einen Konflikt wie im Jahr 2015 muss man in der Politik auch einmal aushalten. Das ändert nichts daran, dass wir viele erfolgreiche Jahre hatten und zusammen viel erreicht haben.
Seehofer: Sie sprechen die Sitzung des Parteivorstandes im Sommer 2018 an. Alle hatten mich aufgefordert, Beschlüsse gegen den Willen der Kanzlerin durchzusetzen, die die Landtagsfraktion, die bayerische Staatsregierung und der CSU-Vorstand getroffen hatten. Auf einmal aber wollte davon niemand mehr etwas wissen, weil es manchen zu heiß geworden war. Da habe ich gegen Mitternacht gesagt: Wenn das so ist, habe ich ein Problem. Wir haben dann die Sitzung unterbrochen, für den kommenden Tag ein Gespräch mit Angela Merkel vereinbart und einen Weg gefunden, weiterzuarbeiten. Ich musste in dieser Situation die Bremse ziehen – aber von einem Rücktritt war nie die Rede.
Seehofer: Schauen Sie auf die Lage des Landes: Wir haben die Wirtschaftskrise überwunden. Wir haben die Bankenkrise überwunden. Wir haben die Flüchtlingskrise in den Griff bekommen.
Seehofer: Wenn Sie wissen wollen, ob ich etwas anders machen würde, dann muss ich sagen: Nein. Und das meine ich ernst. Man kann sich nicht immer aalglatt durchs Leben winden, in der Politik braucht es Ecken und Kanten.