Der Großbritannien-Experte Thomas Kielinger lebt seit über 20 Jahren in London. Der Brexit und seine Auswirkungen begleiten ihn von Beginn an. Im Gespräch erklärt er die Besonderheiten der Demokratie auf der Insel.
Frage: Seit nunmehr drei Jahren spukt der Brexit nicht nur in den britischen Köpfen herum. Seitdem Boris Johnson Premierminister ist, haben sich Tonfall und Tempo der Debatte noch einmal verschärft. Wie ist die Situation auf der Insel?
Thomas Kielinger: England ist auf der Intensivstation.
Wie konnte es so weit kommen?
Kielinger: Das heutige Personal in der Regierungsverantwortung ist der Endpunkt einer langen Geschichte, die vor drei Jahren mit dem Referendum begann. Damals hat natürlich nicht das "Volk" gesprochen, wie die Brexiteers bis heute behaupten. Schließlich ging das Referendum damals denkbar knapp mit 52 zu 48 Prozent für den Brexit aus. In der Folgezeit wurden die Animositäten und die Aufregung innerhalb der britischen Politik größer. Man hat einen Endpunkt gesucht und nicht gefunden. Als Theresa May gestürzt wurde, kamen die entschiedensten Brexiteers ans Ruder. Die Tories haben sich von Fall zu Fall weiter radikalisiert, sodass heute ein Austritt ohne Abkommen denkbar scheint.
Premierminister Boris Johnson droht diesen "No-Deal" vehement an. Wie kommt solch ein Politiker bei den Briten an?
Kielinger: Boris Johnson ist ein geborener Volkstribun. Ein großer Rhetoriker, ein großer Schauspieler. Charismatisch - aber auch ein Vabanquespieler. Insofern ein typischer Vertreter seiner Klasse.
Was meinen Sie damit?
Kielinger: Johnson gehört zur britischen Oberschicht - wie insgesamt 64 Prozent seines Kabinetts. Das ist ein elitärer Zirkel, der die gleichen Privatschulen und Universitäten besuchte - oft Oxford oder Cambridge. In diesen Kreisen wird schon den Schülern das Gefühl vermittelt, sie seien etwas besser. Dass sie später Verantwortung für ihr Land zu übernehmen hätten. Dass herausgehobene Stellungen und Führungspositionen quasi ihr Geburtsrecht seien. Niemand vermittelt das besser als Jacob Rees-Mogg.
Der sich vergangene Woche im Parlament schlafend stellte?
Kielinger: Genau der. Ein unglaublicher Affront - stellen Sie sich das vor, da lümmelt sich ein Abgeordneter im Unterhaus über drei Sitze hinweg. Wie ein Spätabkömmling der Aristokratie des 18. Jahrhunderts - lässig, erhaben, exzentrisch. Eine Herausforderung erster Art für das Parlament. Es ist zwar ein Fauxpas, aber überraschenderweise nicht so, wie man in Deutschland glauben würde.
Sondern?
Kielinger: Würde ein Parlamentarier bei uns sich ähnlich verhalten, wäre seine politische Karriere, zumindest vorübergehend, vorbei. Die Briten sind aber noch immer eine Klassengesellschaft. Es gibt noch immer Menschen, die Politikern wie Rees-Mogg zustimmen, wenn dieser seine vermeintliche Überlegenheit demonstriert. Mit seinem Auftreten und seinem nasalen "King’s English". Das Gleiche gilt für Johnson. Er hatte ja bereits als Bürgermeister von London etliche Allüren an den Tag gelegt.
Für uns eine absurde Vorstellung, solche Politiker anzuerkennen.
Kielinger: Großbritannien ist eben eine Theaternation - "all the world is a stage" (Die Welt ist eine Bühne), wie Shakespeare gesagt hat. Die Briten lieben exzentrische Aufführungen.
Die Briten bevorzugen also nicht immer das berühmte Understatement?
Kielinger: Absolut. Sie scheuen sich nicht, sich auch mal zu exponieren. Politiker haben kein Problem damit, alle Register zu ziehen, die Individualität und Exzentrik erlauben. Im Privaten gilt Understatement, in der Öffentlichkeit punktet die Exzentrik.
Ist das ein Oberklasse-Ding? Ähnlich wie bunt gestreifte Tweed-Jackets?
Kielinger: Es ist definitiv ein Oberklasse-Ding. Das hängt mit dem Bewusstsein der Elite zusammen, die glaubt, sich so etwas erlauben zu können. Johnson, wie übrigens auch der Ex-Premier David Cameron, gehörte in Oxford zum "Bullingdon Club". Der ist dafür berühmt, einmal im Jahr völlig auszurasten und ein Restaurant kurz und klein zu schlagen.
Absonderlich.
Kielinger: Die oberste Klasse auf der Insel fühlt sich eben berechtigt, solche Dinge tun zu dürfen.
Welche Beziehung haben die Briten zu ihrer Verfassung? Die gibt es ja immerhin nicht in schriftlicher Form.
Kielinger: Die Verfassung lebt in England einerseits vom "Common Law", also tradiertem Gewohnheitsrecht, was durchaus Jahrhunderte alt sein kann. Denken Sie an den Rechtsgrundsatz "Habeas Corpus", der Gleichheit vor dem Gesetz garantiert und im 13. Jahrhundert festgehalten wurde. Übrigens wieder etwas, woran man die tiefe Verankerung von Traditionen in der britischen Gesellschaft messen kann. Und andererseits lebt die Verfassung von Präzedenzfällen, die Parlament oder Gerichte schufen und schaffen. Einen solchen Präzedenzfall erleben wir gerade.