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BERLIN
Früher war die Kanzlerin die Macht, an der niemand vorbeikam
Wo ist Merkel?       -  _
Stefan Lange (51) ist neuer Leiter des Hauptstadtbüros unserer Zeitung. Zuvor arbeitete er als Teamleiter Politik im Berliner Büro von Dow Jones Newswires und dem Wall Street Journal. Lange ist seit 2001 in Berlin und hat dort unter anderem bei verschiedenen Nachrichtenagenturen gearbeitet. Davor war der gebürtige Friese zwölf Jahre lang als Volontär und Redakteur bei einer Tageszeitung in Jever beschäftigt.
Stefan Lange
 |  aktualisiert: 03.12.2019 11:44 Uhr

Als der politische Donner losbricht, ist Angela Merkel gerade in München. In der Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde lässt sie sich feiern. Ronald Lauder, ein Amerikaner und Präsident des Jüdischen Weltkongresses, überreicht ihr den Theodor-Herzl-Preis für ihren Einsatz gegen Antisemitismus. Der Saal erhebt sich. Der Applaus schwillt an. Die Kanzlerin strahlt. Es ist ein Termin ganz nach ihrem Geschmack. Internationale Anerkennung statt Berliner Klein-Klein und Parteiengezänk. Und doch dürfte das Grollen, das da aus dem Sendestudio des ZDF in Mainz zu hören ist, bis in die Münchner Synagoge gedrungen sein.

Wie ein Nebelteppich über dem Land

Die „Untätigkeit und die mangelnde Führung“ Merkels lege sich seit Jahren wie ein Nebelteppich über das Land, poltert Friedrich Merz im Interview mit dem „heute-journal“. Das könne so nicht weitergehen. „Und ich kann mir schlicht nicht vorstellen, dass diese Art des Regierens in Deutschland noch zwei Jahre dauert“, mahnt der ehemalige Unions-Fraktionschef und Chefkritiker der Merkel-Regierung. Die tut das, was sie in solchen Situationen meistens tut: Sie schweigt. Doch während ihr das früher als Stärke angerechnet wurde, lässt die Sprachlosigkeit Merkel heute schwach entscheiden. Was ist los mit dieser Kanzlerin?

Exemplarisch für die Situation im Kanzleramt sind die Vorgänge um Annegret Kramp-Karrenbauer. Da prescht die deutsche Verteidigungsministerin und CDU-Chefin vor und präsentiert Ideen zur Entschärfung des Syrienkriegs. Merkel ist über den Vorstoß für eine sogenannte Schutzzone informiert. Sie weiß aber offenbar nicht, dass AKK das Ding alleine durchziehen will. Wie aus Regierungskreisen zu hören ist, soll der Verteidigungsministerin aus dem Kanzleramt noch der Rat gegeben worden sein, sich zumindest mit Frankreich abzustimmen und den Vorstoß gemeinsam zu präsentieren. Eine offizielle Bestätigung dafür gibt es nicht, fest steht nur, dass Annegret Kramp-Karrenbauer ihre private Syrien-Offensive solo vorträgt und damit national wie international für einige Irritationen sorgt.

Früher hätte Merkel wichtige Entscheidungen niemals aus der Hand gegeben

Interessant an dem Vorgang ist, dass Merkel ihre Nachfolgerin im Parteiamt gewähren ließ. Früher war die Kanzlerin die Macht, an der niemand vorbeikam. An der vorbeizukommen sich auch niemand getraut hätte. Die alte Merkel hat Außenminister wie Guido Westerwelle, Frank-Walter Steinmeier oder aktuell Heiko Maas oft die Luft zum Atmen genommen, weil sie wie selbstverständlich die Linien der auswärtigen Politik vorgab und den Ressortverantwortlichen lediglich die Brotkrumen zum Aufsammeln zurückließ. Eine Entscheidung von solcher Tragweite, wie sie der Vorschlag von Kramp-Karrenbauer bedeutet, nämlich eine völlige Neuausrichtung deutscher Außenpolitik, hätte die Regierungschefin niemals aus der Hand gegeben.

Warum die neue Merkel es eben doch getan hat, dazu gibt es gleich zwei Theorien. Die eine hat den Namen Rache, die andere hört auf Amtsmüdigkeit. Es kann durchaus sein, dass Angela Merkel Annegret Kramp-Karrenbauer bewusst auflaufen ließ. Die erfahrene Regierungschefin wird gewusst haben, dass sich ihre Verteidigungsministerin mit dem Schutzzonen-Vorschlag selbst schadet. Deutschland hat in der Staatengemeinschaft weder bei Freund noch bei Feind das nötige Standing, um eine solch umfassende Operation alleine anzuzetteln. Merkel musste klar gewesen sein, dass kommen wird, was gerade passiert: Kramp-Karrenbauer rudert zurück, statt Punkte zu sammeln, ist sie um Gesichtswahrung bemüht.

Nicht mehr so verbissen wie früher

Es wäre ja nicht das erste Mal, dass Merkel die Saarländerin vorführt. Anstatt ihr zügig einen Kabinettsposten zu verschaffen, wartete die Kabinettschefin ab, bis Kramp-Karrenbauer den Finger hob. Oder besser gesagt: Durch die Umstände (den Wechsel von Ursula von der Leyen nach Brüssel) irgendwie veranlasst wurde, den Finger zu heben und eines der konfliktträchtigsten Ressorts zu übernehmen, das das Kabinett zu bieten hat.

Mehr als eine Anekdote ist auch der Vorgang um den USA-Trip der Parteikolleginnen. AKK wollte eigentlich in der eleganten Kanzlermaschine zusammen mit Merkel über den Großen Teich jetten. Die Chefin machte ihrer Untergebenen jedoch flugs klar, dass das so nicht gehe. Kramp-Karrenbauer musste zähneknirschend auf einen grauen Truppentransporter umsteigen und damit nach Washington düsen.

Ihr Terminkalender ist dünner geworden

Was fehlt in dieser Theorie, ist allerdings ein Rachemotiv. Kramp-Karrenbauer war Wunsch-Nachfolgerin Merkels an der Parteispitze. Wahrscheinlicher ist also die Annahme, dass Merkel gerade eine andere Sicht auf ihr Amt gewinnt. Ihre Verantwortung als Staatsfrau hält sie hoch. Aber – wenn man es positiv formulieren wollte – sie sieht die Dinge nicht mehr so verbissen wie früher, kann auch loslassen. Beim Klimapaket etwa war sie zwar stets dabei, ganz vorne standen aber andere. Ihr Parteikollege Andreas Jung etwa oder auch ihr Staatsminister Helge Braun.

Vieles hat sich eben verändert für die 65-Jährige. Der Terminkalender ist dünner geworden. Seit sie den CDU-Vorsitz aufgegeben hat, muss sie nicht mehr so oft reisen. Der Polizei-Hubschrauber landet seltener im Garten des Kanzleramtes, um die Chefin in einen entlegenen Winkel Deutschlands zu transportieren. Die gepanzerten Dienstlimousinen spulen nicht mehr ganz so viele Kilometer ab, für die Leibwächter ist das Leben angenehmer geworden.

Dann sind da noch die Spekulationen über ihren Gesundheitszustand

Es gibt zudem zaghafte Anzeichen, dass sie sich stärker dem Privaten zuwendet. Kürzlich erst verzichtete sie auf die Teilnahme an einer in Leipzig angesetzten Sondersitzung der Unionsfraktion zum Jahrestag der friedlichen Revolution. Sie nahm stattdessen an einem Symposium teil, das anlässlich des 70. Geburtstages ihres Ehemannes Joachim Sauer abgehalten wurde. Die „alte“ Merkel hätte sich vermutlich anders herum entschieden.

Und dann sind da noch die Spekulationen über ihren Gesundheitszustand. Die Zitteranfälle der Kanzlerin gingen um die Welt und wurden nicht nur aufmerksam beobachtet, sondern in Ländern wie Russland auch weidlich für politische Zwecke ausgeschlachtet. Ob die Kanzlerin wegen der Anfälle in Behandlung ist, lässt sie offen. „Sie dürfen davon ausgehen, dass ich auch als Mensch ein großes persönliches Interesse daran habe, dass ich gesund bin und auf meine Gesundheit achte“, sagt sie.

Spekulationen um denGesundheitszustand

Aber auch andere achten auf ihren Gesundheitszustand. Kramp-Karrenbauer nämlich, das wird in diesen Tagen in CDU-Kreisen gerne erzählt, habe nur noch eine Chance, Kanzlerin zu werden: Nämlich dann, wenn Angela Merkel aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig abtreten müsste. Dann nämlich müsste der Bundespräsident bis zur Wahl eines neuen Kanzlers oder einer neuen Kanzlerin einen geschäftsführenden Regierungschef ernennen. Das würde den einschlägigen Kommentaren verschiedener Staatsrechtler zufolge die Vorsitzende der stärksten Regierungspartei werden, die praktischerweise auch Kabinettsmitglied ist: Annegret Kramp-Karrenbauer. Die würde sich dann, so gehen die Spekulationen weiter, der Wahl im Bundestag stellen. AKK dürfte in den ersten beiden Wahlphasen scheitern, in denen eine absolute Mehrheit der Abgeordnetenstimmen (Kanzlermehrheit) erforderlich ist. Im dritten Wahlgang allerdings wäre Kramp-Karrenbauer mit ziemlicher Sicherheit gewählt, denn dann hat gewonnen, wer die meisten Stimmen erhält (relative Mehrheit).

Mit der Kanzlerin ist sicherlich weiter zu rechnen

Gegen dieses Szenario spricht allerdings zweierlei: Kramp-Karrenbauer steht mächtig unter Druck, die Partei wird wenig Ambitionen haben, sie gerade jetzt ins Kanzleramt zu hieven. Und dann ist da das noch mächtigere Gegenargument: Angela Merkel selbst. Wer sie dieser Tage im Regierungsviertel beobachtet, der sieht eine Regierungschefin, die bei Besuchen anderer Politiker sichtlich Spaß am Job hat, die Auslandsreisen konzentriert absolviert und die offenbar vorhat, bis zum Ende ihrer Regierungszeit 2021 im Amt zu bleiben.

„Lame Duck“ werden amerikanische Politiker genannt, wenn sie auf das Ende ihrer Amtszeit zusteuern und nicht zur Wiederwahl antreten. Und das, eine lahme Ente, ist Merkel nicht. Mit ihr ist sichtlich weiter zu rechnen.

 
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