Nachgeben, das macht Philippe Martinez klar, kommt für ihn und seine Mitstreiter nicht in Frage. Er sieht nur eine einzige Lösung, um den Generalstreik zu beenden, der Frankreich seit Donnerstag lahmlegt: Die Regierung muss nachgeben. „Eine gute Nachricht wäre, wenn sie sagen würde, sie hat die allgemeine Unzufriedenheit wahrgenommen und zieht ihr Reformprojekt zurück, um gemeinsam an einer Verbesserung des aktuellen Rentensystems zu arbeiten.“ Der 58-jährige Chef der Gewerkschaft CGT, die den Kommunisten nahesteht, hat sich am Dienstag an der Spitze des Demonstrationszuges in Paris gesetzt und erhält so viel Medienaufmerksamkeit wie schon lange nicht mehr. Einer Umfrage zufolge unterstützen 68 Prozent der Franzosen die Streikbewegung gegen die geplante Rentenreform – obwohl der Ausfall der meisten Züge, S-Bahnen, Pariser Metros und von 20 Prozent der Flüge ihren Alltag bereits seit Donnerstag massiv stört.
„Wir werden alle verlieren“, sagt Gewerkschafter Philippe Martinez
Am Dienstag demonstrierten landesweit erneut Zehntausende. Sieben der acht französischen Raffinerien waren geschlossen, die meisten Universitäten im Land und auch einige Schulen. Neben vielen Lehrern streikten auch Beschäftigte von Krankenhäusern, Verwaltung und Justiz. Ab heute drohen zudem die Polizisten mit Arbeitsniederlegung – was heikel werden könnte, sollen sie doch die Demonstrationen, unter die sich auch Rowdys mischen, absichern. Wie die meisten Beamten, aber auch viele Angestellte befürchten sie eine Verschlechterung ihrer Situation im Alter, einen späteren Rentenbeginn oder geringere Pensionszahlungen. „Man muss kein Rentenexperte sein, um zu verstehen, dass wir alle verlieren werden“, warnt Martinez. Macrons geplante Rentenreform ist die Zündflamme für diese Revolution. Am Donnerstag soll weiter gestreikt werden.
Die Regierung hält dagegen, dass die Details doch erst an diesem Mittwoch von Premierminister Édouard Philippe vorgestellt werden und weiter Gegenstand von Verhandlungen mit den Sozialpartnern bleiben, die seit zwei Jahren laufen. Allerdings sind die großen Linien bereits bekannt: Die aktuell 42 verschiedenen Rentenkassen sollen durch ein universelles Punktesystem ersetzt werden, was das Ende von Sonderkonditionen für bestimmte Berufsgruppen wie jene der Bahnmitarbeiter oder der Pariser Verkehrsbetriebe bedeuten soll, die teilweise mit Anfang, Mitte 50 in den Ruhestand gehen können. Auch die Berechnung der Rentenansprüche will die Regierung anpassen: Während bei Beschäftigten der Privatwirtschaft die 25 besten Jahre ihrer Karriere dafür herangezogen werden, dienen bei Beamten die letzten sechs Monate als Basis.
Vom Ziel massiver Einsparungen für die Rentenkasse, die derzeit ein Defizit von 2,9 Milliarden Euro aufweist, ist die Regierung schon abgerückt. Auch zeigt sie sich zu Zugeständnissen bereit – Lehrer etwa sollen eine Gehaltsprämie bekommen, Nacht- und Schichtarbeit weiter gesondert berücksichtigt werden. Unklar erscheint zudem, welche Jahrgänge von den neuen Regeln betroffen sind. Präsident Emmanuel Macron, der von seiner bisherigen Hauruck-Methode abgehen und mehr als zuvor auf Dialog setzen will, hat versprochen, dass „wir alle gemeinsam diese Reform aufbauen werden“. Nur sehen sich die vermeintlichen Partner momentan als seine Gegner und wirken die Debatten wie ein Kräftemessen, bei dem ein Kompromiss kaum möglich scheint.
Die Regierung befürchtet, dass der Widerstand ähnlich ausufern könnte wie 2010, als der damalige Präsident Nicolas Sarkozy das Renteneintrittsalter von 60 auf 62 Jahre hinaufsetzte. Und vor allem wie 1995. Damals musste der konservative Premierminister Alain Juppé nach dreiwöchigen Blockaden seine Pläne, die Rentenversicherung der Beamten an jene der anderen Arbeitnehmer anzugleichen, zurückziehen. Zu stark war die Macht der Straße, um die Errungenschaften zu wahren, die im internationalen Vergleich relativ großzügig erscheinen: Die Franzosen gehen im Schnitt bereits mit 60,8 Jahren in Rente und haben im Schnitt gut 1600 Euro monatlich zur Verfügung. Das Einkommen der Rentner liegt sogar 3,2 Prozent über dem nationalen Durchschnitt. Abzüge wollen die Demonstranten aber nicht akzeptieren, die stolz auf ihre Protest-Tradition von der Französischen Revolution bis zum Mai 1968 verweisen. Arbeitgebervertreter bedauern hingegen, dass in Frankreich meist erst gestreikt, und dann verhandelt wird – und nicht umgekehrt.
Macron gibt sich als kühner Reformer gegen allen Widerstand
Demgegenüber präsentiert sich Präsident Macron als kühner Reformer gegen allen Widerstand. „In einer Demokratie ein Land zu führen heißt zu akzeptieren, nicht beliebt zu sein“, sagte er im Frühjahr, als die Krise der „Gelbwesten“ abzuflauen begann, die ihn monatelang unter Druck gesetzt hatten. Nachdem der Staatschef aufgrund seines wirtschaftsfreundlichen Kurses Anhänger der Linken, die bei der Präsidentschaftswahl 2017 noch für ihn gestimmt hatten, längst verloren hat, setzt er auf die Wähler, die er den Konservativen abspenstig machte. Sie würden es Macron kaum verzeihen, sollte er sein Versprechen einer Rentenreform brechen. Auch im Ausland erwartet man von ihm eine mutige Modernisierung des Landes. Nachdem er Reformen des Arbeitsmarktes, der Staatsbahn SNCF und der Arbeitslosenversicherung durchgesetzt hat, steht ihm mit diesem Projekt, das alle Franzosen betrifft und fast ebenso viele gegen ihn aufbringt, der wohl größte Härtetest bevor.
Zugleich kämpfen auch die französischen Gewerkschaften ums Überleben. Da nur noch knapp acht Prozent aller Angestellten gewerkschaftlich organisiert sind, treten die Arbeitnehmerorganisationen umso kompromissloser auf. Sie hatten das Nachsehen bei den Demonstrationen der „Gelbwesten“, die sich in den Sozialen Netzwerken organisiert hatten und aus dem klassischen Protestschema ausbrechen wollten. Nun wirken die Arbeitnehmervertreter erstarkt. „Wir halten durch bis zur Rücknahme der Reform“, kündigt CGT-Generalsekretär Philippe Martinez an.
Trotz aller Einschränkungen durch die Demonstrationen befürwortet eine Mehrheit der Franzosen den Ausstand. Das Recht zu streiken ist in der französischen Verfassung festgeschrieben. Paradoxerweise spricht sich ein ähnlich großer Anteil für eine Reform des unübersichtlichen Rentenversicherungssystems mit seinen 42 verschiedenen Kassen aus. Die Regierung verspricht, dass sich die Situation für Geringverdiener, Landwirte und Mütter, die nach der Geburt ihrer Kinder ausgesetzt haben, verbessern wird. Weitere Details gibt sie an diesem Mittwoch bekannt – gestreikt wurde aber sicherheitshalber vorab. Der Druck wirkt schon: Nun heißt es, die neuen Regeln könnten womöglich erst für jüngere Menschen – beispielsweise ab der Generation Macron, der 1977 geboren ist – in Kraft treten und ein Abbau des Defizits der Rentenkasse in Höhe von 2,9 Milliarden Euro habe keine Priorität mehr.
Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye verspricht, die Tür stehe „selbstverständlich offen für Verhandlungen“, und besonders anstrengende Arbeitsbedingungen wie Nachtarbeit würden berücksichtigt. Premierminister Philippe lobt die „gute Organisation“ der Demonstrationen. Die Regierung will sich nicht mehr Feinde machen, als sie ohnehin schon hat.
Warum stößt ihr Reformprojekt dennoch auf so viel Widerstand, für den die Streikenden auch finanzielle Abstriche in Kauf nehmen? Da ihr pro Streiktag 80 Euro vom Gehalt abgezogen werden, rechnet die Lehrerin Laure beispielsweise mit Einbußen von mindestens 240 Euro: „Aber ich bin bereit, Opfer zu bringen. Lieber verliere ich heute etwas Geld als die 600 Euro Pension, die mich diese Reform kosten dürfte.“ Das habe sie ausgerechnet.
Zwar hat Erziehungsminister Jean-Michel Blanquer den Lehrern per Brief eine Gehaltserhöhung und ein gesichertes Rentenniveau versprochen. Doch den Franzosen mangelt es an Vertrauen in ihre Regierung. Umfragen zufolge machen sich 71 Prozent von ihnen Sorgen um ihre Rente.
Was bieten die Oppositionsparteien eigentlich an?
Der jetzige Widerstand resultiere aus dieser Unsicherheit und einer starken Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft, sagt der Soziologe Michel Vakaloulis: „Das soziale Klima verdüstert sich.“ Es habe schockiert, dass Macron die Reichensteuer abgeschafft und gleichzeitig die Wohnunterstützung für die Ärmsten gekürzt hat. Mangels einer glaubwürdigen Alternative entstehe das Gefühl einer „politischen Sackgasse“.
Die Oppositionsparteien kritisieren das Reformprojekt, dringen damit aber wenig durch. Was bieten sie an? Die Konservativen sind für eine Erhöhung des Rentenalters oder der Beiträge, der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon hält die Rente mit 60 für „ein seriöses Ziel und finanzierbar“, wenn die Gehälter steigen. Rechtspopulistin Marine Le Pen wirbt ebenfalls für die Rente mit 60 und das aktuelle System, „das gut funktioniert“.
Das sehen viele Demonstranten anders. Aber statt eines Abbaus der Ungerechtigkeiten befürchte er deren Verschärfung, sagt etwa der Chirurg Pierre. „Meine Situation ist in Ordnung, aber ich sehe, dass viele Krankenpfleger mit ihrem geringen Gehalt kaum über die Runden kommen.“ Unter Macron habe sich die Lage in den Krankenhäusern weiter verschärft, so der 34-Jährige. Ihm geht es bei seinem Protest um etwas Grundsätzliches, nämlich um eine fairere Gesellschaft. Um eine Art Revolution von unten – so wie Frankreich sie schon erlebt hat.