Verstieß die mehr als zweijährige Aussetzung des Familiennachzugs für einen Teil der Geflüchteten in Deutschland gegen internationales Recht? Warum können unbegleitete Minderjährige in der Praxis häufig ihre Eltern, nicht aber ohne Weiteres minderjährige Geschwister nachholen? Eine Studie zu dem Thema haben Juristen der FH Würzburg-Schweinfurt mit anderen europäischen Wissenschaftlern an der Universität Sapienza in Rom vorgestellt. Auftraggeber ist die Forschungsgesellschaft für das Weltflüchtlingsproblem (AWR). Die Gesellschaft gibt seit Ende des 2. Weltkrieges Schriften über Vertriebene und Geflüchtete heraus. In der Studie vergleichen die Autoren nationales und internationales Recht. Ein Gespräch mit den Autoren Professor Ralf Roßkopf und Professorin Anne Bick.
Wird in Deutschland internationales Recht eingehalten?
Bick: In Deutschland sind europarechtliche Vorgaben grundsätzlich umgesetzt. Kritisch sehe ich allerdings die mehr als zweijährige Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten von März 2016 bis Juli 2018.
Subsidiären Schutz erhalten vor allem die Opfer der willkürlichen Bürgerkriegsgewalt in Syrien, die nicht aufgrund ihrer Rasse oder Religion individuell verfolgt werden und deshalb auch nicht als anerkannte Flüchtlinge gelten. Ist es rechtswidrig, dass sie ihre Familie nicht nachholen durften?
Bick: Weder das Bundesverfassungsgericht noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte garantieren einer Familie, dass sie das Land, wo sie als Familie zusammenlebt, frei wählen darf.
Wo also liegt das Problem?
Bick: Staatliche Interessen der Einwanderungskontrolle und das Interesse des Einzelnen, die Familieneinheit herzustellen, müssen – so die Rechtsprechung – gegeneinander abgewogen werden. Die Aussetzung des Familiennachzugs ist also nur dann kein Rechtsbruch, wenn jeder Einzelfall betrachtet wird, um Härtefälle auszuschließen. Genau dies war aber nicht der Fall.
Es gab aber doch die Härtefallklausel, nach der sich Eltern und Kinder aus humanitären Gründen gegenseitig nachholen durften.
Bick: Ja, doch diese wurde äußerst restriktiv ausgelegt. Laut Auswärtigem Amt wurde von Beginn 2017 bis 29. März 2018 nur in 160 Fällen ein Visum auf dieser Grundlage erteilt. Wenn man bedenkt, dass 35.939 unbegleitete Minderjährige in Deutschland allein im Jahr 2016 einen Asylerstantrag gestellt haben und die Quote der subsidiär Schutzberechtigten im gleichen Jahr bei 22,1 Prozent lag, sind 160 Ausnahmen zu wenig, um belegen zu können, dass die Einzelfallprüfung tatsächlich stattfand.
Wenn bestimmte Flüchtlingsfamilien auseinander gerissen bleiben, liegt das also nicht an fehlenden Gesetzen, sondern vielmehr an deren Anwendung und Interpretation?
Roßkopf: Ja, das ist in vielen europäischen Ländern der Fall. Oft lässt die Rechtslage den Behörden zu viel Ermessensspielraum. Häufig sind unbestimmte Rechtsbegriffe das Problem, die von Behörden unterschiedlich interpretiert werden.
Das heißt, ich bin als Antragsteller dem Wohlwollen des jeweiligen Sachbearbeiters ausgeliefert?
Roßkopf: In der Tat. Ab August 2018 sind subsidiär Schutzberechtigte völlig von der Haltung der jeweiligen Behörde abhängig. Nach dem Willen der großen Koalition dürfen von diesen Familien nur 1000 Anträge pro Monat genehmigt werden. Darüber zu entscheiden, liegt im Ermessen der Behörden. Ob deren Entscheidung im Einzelfall richtig ist, ist kaum gerichtlich zu überprüfen.
Ist es rechtmäßig, wenn individuell verfolgte anerkannte Flüchtlinge das Recht auf Familienzusammenführung haben, Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien aber nicht?
Bick: Man kann diskutieren, ob ein Gleichheitsverstoß vorliegt. Denn beide sind vor Abschiebung geschützt. Beide könnten nach fünf Jahren, wenn sie gut integriert sind, die deutsche Sprache sprechen und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, die Erlaubnis erhalten, sich niederzulassen. Der subsidiär Geschützte ist also nicht unbedingt kürzer in Deutschland als der anerkannte Flüchtling. Nach der europäischen Menschenrechtskonvention dürfte deshalb der Status bei der Familienzusammenführung keine Rolle spielen, sondern nur der jeweilige Einzelfall, auch wenn das Recht der Europäischen Union hier auf den ersten Blick eine unterschiedliche Behandlung zuzulassen scheint.
Um wie viele nachzugsberechtigte Familienmitglieder geht es?
Roßkopf: Es gibt keine verlässlichen Zahlen. Das Bundesamt für Migration ging einmal von 500.000 bis 600.000 Menschen aus; das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung von 100.000 bis 120.000. Die Zahl der Anträge subsidiär Schutzberechtigter lag im Mai 2018 bei 26.000.
Viele Anträge zur Familienzusammenführung scheitern nicht am Recht, ist ein Fazit Ihrer Studie. Woran dann?
Roßkopf: Das Recht ist die eine Seite, die Verwaltung die andere Seite, die den Familiennachzug einschränkt. Viele Familien, die Angehörige nachholen dürften, scheitern, weil Barrieren aufgebaut werden, wenn es darum geht, bestimmte Papiere aus den Heimatländern zu erbringen. Viele Anträge scheitern an fehlenden Kapazitäten in Botschaften und Konsulaten.
In Syrien gibt es längst keine deutsche Botschaft mehr...
Roßkopf: ...deshalb müssen zurückgebliebene Familienmitglieder teils durch Krisengebiete in die deutsche Botschaft in den Libanon oder den Nordirak reisen, um einen Antrag zu stellen. Die Wartezeit für einen ersten Termin dauert Berichten zufolge momentan zwölf bis 14 Monate. Anschließend muss der Antrag von der jeweiligen Ausländerbehörde in Deutschland geprüft werden. Das kann wieder, je nach Einzelfall und Auslastung der Behörde, Monate dauern.
In Schweinfurt stand vor kurzem eine syrische Mutter vor Gericht, die ihre zwei sechs und sieben Jahre alten Kinder von ihrem Ehemann hat einschleusen lassen. Ist das die Folge?
Bick: Bei der Familienzusammenführung kommt es zu unabsehbar langen Verzögerungen. Das ist sicher ein Grund, der manche Eltern zu solchen Entscheidungen treibt. Dabei müsste laut UN-Kinderrechtskonvention das Kindeswohl an oberster Stelle stehen und jeder Antrag „wohlwollend, human und beschleunigt“ im Sinne des Kindes bearbeitet werden.
Ist es rechtswidrig, wenn sich viele Eltern im Ausland zwischen ihrem unbegleiteten Minderjährigen in Deutschland und dessen minderjährigen Geschwistern im Ausland entscheiden müssen?
Bick: ...nach deutschem Recht nicht. Nach internationalem Recht ist es problematisch. Denn nach Deutschland darf nur die Kernfamilie (Eltern und Kinder) nachkommen. Geschwister dürfen nur nachgeholt werden, um eine außergewöhnliche Härte (Beispiel: schwer behinderte Kinder) zu vermeiden. Diese zu beurteilen, liegt im Ermessen der Behörden. Praktisch haben die Eltern angesichts der restriktiven Praxis schlechte Chancen, gleichzeitig mit weiteren Kindern zu unbegleiteten Minderjährigen nachzuziehen. Wenn die Belange der Kinder im Einzelfall nicht geprüft werden, ist ein Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention anzunehmen.
Was also ist Ihr Fazit?
Roßkopf: Das deutsche Recht ist kritisch, weil es zu große Ermessensspielräume lässt, die in der Praxis zu einer viel zu restriktiven Auslegung führen. Von „wohlwollenden, humanen und beschleunigten“ Entscheidungen zum Wohl des Kindes, wie sie die UN-Kinderrechtskonvention fordert, kann keine Rede sein.
Kinder und Ehepartner, die nach Unterfranken nachgezogen sind
In Unterfranken halten sich laut bayerischer Staatsregierung 1124 subsidiär Schutzberechtigte mit syrischer Staatsangehörigkeit auf. (Ausländerzentralregister, Stand 31.5.2018) Es sind all die Menschen, deren Leben momentan in ihrem Herkunftsland aufgrund von Bürgerkrieg, Todesstrafe oder Folter in akuter Gefahr wäre.
Ihre Aufenthaltserlaubnis ist auf ein Jahr beschränkt und wird so lange verlängert, wie die Rückkehr ins Heimatland nicht sicher ist. Sie müssen weiter auf ihre minderjährigen Kinder oder Ehepartner warten, falls diese noch im Ausland sind – es sei denn, sie fallen ab August unter das Kontingent der 1 000 Privilegierten pro Monat in Deutschland.
Viel spekuliert wird darüber, wie viele subsidiär Schutzberechtigte nach Unterfranken nachziehen könnten – würde man es allen 1124 erlauben. Klar ist: Von der sechs Mal so großen Gruppe der anerkannten Flüchtlinge wurde 2017 lediglich 800 Familienangehörigen die Aufenthaltserlaubnis erteilt. Diese ging an 500 minderjährige Kinder, 250 Ehepartner, 40 Eltern, die zu ihren minderjährigen Kindern ziehen und zehn sonstige Familienangehörige. Im Jahr 2016 waren es 400. (akl)
Diese Rechtsgrundlagen schützen die Familie
Den Schutz der Familie sollen sowohl die UN-Kinderrechtskonvention, das Recht des Europarates (Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention) und das Rechtssystem der Europäischen Union (Richtlinie zur Familienzusammenführung) garantieren. Im nationalen Recht jedes einzelnen EU-Landes sollen die europäischen Richtlinien umgesetzt werden. In Deutschland stellt Artikel 6 des Grundgesetzes die Familie unter besonderen Schutz des Staates. (akl)