Millionen Istanbuler haben vor der Wiederholung der Oberbürgermeisterwahl in ihrer Stadt ein dreistündiges Fernsehduell der beiden Hauptkandidaten verfolgt. In der trägen Diskussion wurde Oppositionskandidat Ekrem Imamoglu, der in den Umfragen klar vorne liegt, der Favoritenrolle gegenüber seinem Rivalen Binali Yildirim gerecht: Imamoglu ist vor der Wahl am Sonntag auf der Siegerstraße, da sind sich viele Beobachter sicher. Er wird damit zum neuen Hauptgegner von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der inzwischen selbst die schlechten Aussichten für seinen Kandidaten Yildirim einräumt.
Über Nacht zum Shooting-Star der türkischen Politik
Imamoglu hatte die reguläre Wahl Ende März knapp gewonnen und war damit über Nacht zum Shooting Star der türkischen Politik geworden. Auf Druck der Erdogan-Partei AKP ordnete die Wahlkommission jedoch eine Neuauflage für den 23. Juni an. Eine neuerliche Niederlage würde Erdogans Macht erheblich erschüttern. Imamoglu, der früher Bürgermeister des Istanbuler Stadtbezirks Beylikdüzü war, hat es nicht zuletzt der unabsichtlichen Hilfe von Erdogans Partei zu verdanken, dass er zum Hoffnungsträger der Opposition im ganzen Land geworden ist. Die umstrittene Entscheidung zur Wiederholung der Wahl hat dem 49-Jährigen einen Opferstatus verschafft, den er geschickt einsetzt.
Zudem kann der fromme Muslim, den seine Fans zusammen mit seiner Frau Dilek für die türkischen Obamas halten: anständig und bodenständig – Vermittler in einem tief gespaltenen Land. Trotz der stark polarisierten Wählerschaft kann er sehr unterschiedliche Gruppen erreichen. Dazu gehören die Anhänger seiner eigenen säkularen Partei CHP ebenso wie konservative Istanbuler und kurdische Wähler.
Die AKP nimmt Yildirims Herausforderer ernst
Imamoglus politisches Talent wird bereits mit dem des heutigen Präsidenten Erdogan verglichen, der nach dem Regierungsantritt 2002 zunächst mit einer pragmatischen Haltung, mit politischen Reformen und Botschaften der Toleranz erfolgreich war. Die AKP nimmt Yildirims Herausforderer ernst. Politiker der Regierungspartei und regierungstreue Medien verbreiteten unter anderem das Gerücht, er sei griechischer Abstammung – und suggerierten damit, er sei ein vom feindlichen Ausland gesteuerter Kandidat. Die Kampagne ging jedoch nach hinten los, weil der Vorwurf gegen Imamoglu auf seiner Herkunft von der Schwarzmeerküste beruhte. Hunderttausende Istanbuler, die aus der gleichen Region kommen, fühlten sich ebenfalls angegriffen.
Erdogan spielt die Bedeutung des Bürgermeisteramts herunter – und verweist darauf, dass seine Partei den Stadtrat Istanbuls und die meisten Bezirke beherrsche. Bei der Wahl am Sonntag gehe es nur um die „Schaufensterdekoration“. Foto: ap/dpa