Artikel 50 regelt den Austritt aus der EU. John Kerr hat diesen Artikel mit in den EU-Vertrag geschrieben. Eigentlich, um autoritäre Regierungen, die austreten wollen, in ein geregeltes Prozedere zur zwingen. Nun wird der Artikel vielleicht beim Austritt Großbritanniens zum Tragen kommen. Ein Gespräch über die Zweijahresfrist zum Verlassen des EU-Vertrags und ein erneutes Referendum.
Frage: Sie sind einer der Verfasser von Artikel 50, jener Klausel im EU-Vertrag von Lissabon, die den Austritt eines Landes regelt. Darin ist festgeschrieben, dass der Prozess auf zwei Jahre befristet ist. Viele Brexit-Anhänger meinen, das sei ungerecht, weil die Briten nun unter Zeitdruck stehen. Ist Artikel 50 unfair?
John Kerr: Nein, er ist vollkommen fair. Großbritanniens Problem besteht darin, dass wir uns nicht entscheiden können, was wir wollen. Die Schwierigkeiten rühren daher von der Politik im Parlament, nicht von Artikel 50. Die Idee einer zeitlichen Beschränkung wurde umgesetzt, um zu verhindern, dass die EU bezichtigt wird, einen austretenden Mitgliedstaat in endlosen Verhandlungen gefangen zu halten. Wir wollten damit möglichen Austrittsländern signalisieren: Sorgt euch nicht, ihr kommt raus nach zwei Jahren, ob mit Deal oder ohne. Außerdem war die EU bis jetzt bereit, eine Verschiebung des Termins zu gewähren, wenn die Briten darum baten. Ich glaube, Großbritannien wird abermals einen Aufschub beantragen und ich hoffe, dass unsere Partner in der EU Geduld zeigen und es schaffen, ihren Unmut zu beherrschen, um uns die zusätzliche Fristverlängerung zu geben.
Premierminister Boris Johnson verspricht unaufhörlich, das Land am 31. Oktober aus der EU zu führen, er will eigentlich um keinen Aufschub bitten. Derzeit verhandeln London und Brüssel, diese Woche noch könnten sie sich auf einen Deal einigen.
Kerr: Das Abkommen, das Theresa May vereinbart hat, war schlecht und Johnsons Vorschläge machen es nicht besser. Doch selbst wenn es einen neuen Deal gibt, brauchen wir eine Fristverschiebung, denn dann muss das Abkommen in eine Rechtssprache übersetzt werden und der Vertrag muss im Anschluss vom Europäischen wie auch vom britischen Parlament ratifiziert werden. Das braucht Zeit. Sollte es keinen Deal geben, benötigen wir ebenfalls einen Aufschub, weil wir dann mit Sicherheit ein Referendum haben werden mit der Wahl No Deal versus Bleiben. Es würde zu einem überwältigenden Sieg für den EU-Verbleib führen.
Was ist an dem Vorwurf dran, dass Artikel 50 absichtlich so entworfen wurde, um Länder vom Austritt abzuschrecken?
Kerr: Im Gegenteil. Die meisten Leute damals meinten, dass es unnötig ist, eine freiwillige Austrittsklausel festzuschreiben, weil, so die Ansicht, doch niemand freiwillig austreten würde.
Trotzdem wurde er fixiert.
Kerr: Einige dachten, eine solche Klausel wäre hilfreich in einer Situation, in der etwa ein autoritäres Regime die Regeln des Clubs bricht oder die Werte der EU nicht respektiert, was zu einem Entzug der Stimmrechte in der EU führen würde. Unser Verdacht war, dass dieser Staat dann wütend aus der Staatengemeinschaft stürmen würde. Um ein rechtliches Chaos zu vermeiden, haben wir ein Prozedere festgeschrieben für einen geordneten Austritt eines autoritären, populistischen, diktatorischen Staates, der EU-Werte verletzt. Es wäre uns nie in den Sinn gekommen, dass wir etwas verfassen, das Großbritannien einmal in Anspruch nehmen könnte.
Welche Staaten hatten Sie denn im Kopf?
Kerr: Wir waren besorgt über die Haider-Episode in Österreich (Rechtspopulist Jörg Haider Anm. d. Red.) und die Obristen in Griechenland davor. Außerdem haben sich damals die ehemaligen kommunistischen Länder Zentraleuropas um die EU-Mitgliedschaft beworben und wir malten uns eine Situation aus, in der ein Diktator in einem ehemaligen kommunistischen Land EU-Werte wie Demokratie, Pressefreiheit oder Rechtstaatlichkeit nicht respektieren würde.
Wenn Sie heute zurückblicken, haben Sie etwas übersehen beim Verfassen der Klausel?
Kerr: Mit Artikel 50 ist nichts falsch. Man könnte eher anführen, dass es besser gewesen wäre, wenn man ihm präzise gefolgt wäre. Er besagt, dass die Scheidungsbedingungen verhandelt werden sollten vor dem Hintergrund eines vereinbarten Rahmens für das künftige Verhältnis. Aber das war von beiden Seiten nicht gewollt, was ich bedauerlich finde. Statt ein beschlossenes Gerüst für die zukünftigen Beziehungen zu haben, sind wir bei einer politischen Erklärung über die Zukunft gelandet, was bedeutet, dass fünf, sieben Jahre Verhandlungen vor uns liegen. Wenn sich beide Seiten darauf geeinigt hätten, erst diesen Rahmen zu verhandeln, bevor man über die Scheidungsbedingungen entscheidet, hätte man früh im Prozess das Nirwana der Position außerhalb der EU dargelegt. Das ist nicht ganz so attraktiv wie 2016 einige Leute glaubten.
Sie fordern ein zweites Referendum und wirken angesichts der Krise auf der Insel überraschend optimistisch, dass doch noch eine zweite Volksabstimmung angesetzt werden könnte.
Kerr: Das Problem in Großbritannien ist die Lähmung bei der Entscheidungsfindung. Meiner Meinung nach kommt diese nun zu einem Ende. Wir werden in Kürze eine Wahl haben und ein Referendum. Ich weiß zwar nicht, in welcher Reihenfolge, aber hoffe, dass das Referendum zuerst kommen wird. Dann, so zeigen die Umfragen, würde die proeuropäische Seite überzeugend gewinnen. Seit September 2017 führt Remain vor Leave, hauptsächlich aus Gründen der Demografie. Junge Leute wollen in überwältigender Mehrheit in der EU verbleiben und einige ältere Menschen weilen leider nicht länger unter uns.
Bislang gab es im Parlament keine Mehrheit für ein zweites Referendum. Alles deutet vielmehr darauf hin, dass Großbritannien doch nach Artikel 50 austritt.
Kerr: Dann haben wir zumindest eine gute Sache für die EU geleistet. Wir haben gezeigt, dass es eine sehr, sehr schlechte Idee ist, Artikel 50 in Anspruch zu nehmen. Es gibt etliche Menschen, die die EU in unterschiedlicher Art reformieren wollen, aber sollten wir gehen, dann denke ich nicht, dass uns für lange Zeit jemand durch die Tür folgen wird.