Hinschauen – Verstehen – Konsequenzen ziehen“. Diesen Dreiklang wiederholte Kardinal Reinhard Marx mehrfach in Fulda bei der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK): am ersten Tag des Treffens vor Medienvertretern oder am Morgen des zweiten Tages in seiner Predigt im Fuldaer Dom. Gleich zu Beginn des Eröffnungsgottesdienstes sprach der DBK-Vorsitzende seine tiefe Erschütterung aus über das Ausmaß der sexualisierten Gewalt an Minderjährigen durch Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige. „Die Opfer haben ein Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit.“
Auch das Wort „Wendepunkt“ war öfter aus seinem Mund zu hören. An dem stünde die katholische Kirche nun. „Wir wollen Konsequenzen finden, um einen neuen Anfang zu machen“, so Kardinal Marx im Dom.
Ein mühsamer Lernprozess
Welche Konsequenzen die deutschen Bischöfe nach der offiziellen Vorstellung des von ihnen in Auftrag gegebenen Forschungsprojekts am Dienstag ziehen werden, darüber gibt es erste Aussagen, aber keine klar formulierten Maßnahmen. „Wir haben einen Lernprozess hinter uns und merken, wie mühsam das ist“, sagt der DBK-Vorsitzende am Dienstag in Fulda. Noch bis Donnerstag beraten sich die Bischöfe – darunter auch Würzburgs Bischof Franz Jung und Weihbischof Ulrich Boom.
Professor Harald Dreßing vom Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit erläuterte die Studienergebnisse mit ruhiger Stimme sachlich. Er ist Koordinator der beteiligten universitären Einrichtungen. Mitgearbeitet haben das Institut für Kriminologie und Gerontologie der Uni Heidelberg, sowie die Professur für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug der Uni Gießen.
Dreßing wiederholte die bereits vorab bekannt gewordenen Zahlen: Den Forschern wurden 38 156 Personal- und Handakten der 27 Diözesen aus den Jahren 1946 bis 2014 zur Verfügung gestellt. Sie fanden 1670 beschuldigte Kleriker und 3677 von sexuellem Missbrauch betroffene Kinder und Jugendliche.
Mehr ins Detail gehen unter anderen folgende Daten: Bei über 42 Prozent gab es Hinweise auf Mehrfachbeschuldigte. Der „Maximalwert“ habe bei 44 Betroffenen eines einzigen Beschuldigten gelegen. Oder: „Das deutliche Überwiegen männlicher Betroffener unterscheidet sich vom sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in nicht-kirchlichen Kontexten“. Oder: „Die Mehrheit der Sanktionen erscheint uns als leicht.“
„Aufarbeitung und Aufklärung“
Auch auf die Beichte als „katholisches Spezifikum“ ging Professor Dreßing ein. Kleriker hätten sie genutzt, um sich zu offenbaren – und hätten dann weiter missbraucht. Deshalb müsse die Verantwortung des Beichtvaters besprochen werden. Es sei mehr Aufarbeitung und Aufklärung nötig, so Dreßing. Das Projekt könne nicht als abgeschlossen bezeichnet werden.
„Wir müssen neue Wege gehen“, so Marx, „eine Aufarbeitung ist absolut notwendig.“ Die Forscher hätten auf entscheidende Punkte hingewiesen, „da können wir nicht weitermachen“. Das seien Klerikalismus, Machtansammlungen, Zölibat und Homosexualität, nicht als Ursache, vielmehr als Teil des Gesamtproblems.
Unter anderen auf den Klerikalismus gingen auch Vertreter der Kirchenvolksbewegung „Wir sind Kirche“ bei ihrer Pressekonferenz in Fulda ein. Magnus Lux aus Schonungen (Lkr. Schweinfurt) kritisierte unter anderem die Trennung der Kirche in Kleriker und Laien. Das sei grundsätzlich falsch. „Alle sind Kleriker, von Gott Erwählte.“ Und zum Zölibat sagte Lux, dass er nicht grundsätzlich abzulehnen sei, „aber der Pflicht-Zölibat“.
Bischof Ackermann hat Ergebnis „leider erwartet“
Bischof Stephan Ackermann, Beauftragter der Kirche für Fragen sexuellen Missbrauchs, hat das Ergebnis der Studie „leider erwartet“. Es erschrecke ihn dennoch wieder neu. Er verwies auf Maßnahmen, die bereits ergriffen worden seien – wie die im Bereich der Prävention.
Marx bekannte „in aller Klarheit“, dass sexueller Missbrauch ein Verbrechen sei. Allzulange sei in der Kirche Missbrauch geleugnet und vertuscht – oder gar nicht erkannt worden. „Haben wir als junge Priester das Thema wahrgenommen? Nein!“, lautete eine der rhetorischen Fragen von Marx. Oder bezüglich des Jahres 2002, als das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in den USA bekannt wurde: „Haben wir damals die Opferperspektive eingenommen? Nein!“ Das sei erst ab 2010 geschehen, als die Missbrauchsfälle im Berliner Canisius-Kolleg aufgedeckt wurden.
Ein Betroffener berichtet
Matthias Katsch von der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ erlebte in Fulda ein Novum. Er war von den Bischöfen am Dienstagvormittag zur Präsentation der Studienergebnisse eingeladen worden. Katsch, der in den 1970er Jahren Opfer der beiden Serientäter am Berliner Jesuitengymnasium Canisius-Kolleg wurde, kritisierte unter anderem das Design der Studie – aber nicht die Studie selbst. Die Zahlen würden einen nur sehr unvollständigen Eindruck vom tatsächlichen Ausmaß des Missbrauchs durch Kleriker ergeben.
Katsch forderte eine unabhängige Aufarbeitung und eine angemessene Entschädigung. Bischof Ackermann räumte ein, das System der Anerkennung des Leids beziehungsweise die Ermittlung der Entschädigungssumme – seinen Angaben zufolge im Durchschnitt 5000 Euro – durchaus nach acht Jahren neu beurteilt werden könne.