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Die abgehängten Alten
Ukraine Seit Mai 2019 ist ein ehemaliger Komiker Präsident des Landes. Wolodymyr Selenskyj setzt auf junge Gesichter. Die 11,3 Millionen Rentner passen da weniger ins Bild.
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Foto: www.tillmayer.de
Till Mayer
 |  aktualisiert: 27.04.2023 09:27 Uhr

Iryna Bjenko-Schuls Leben zählt schon 101 Jahre. Einen Teil davon hält sie in ihren Händen, in einem dicken Album mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen und verblichenen Farbbildern. Iryna Bjenko-Schul ist eine sehr gepflegte alte Dame, mit immer noch jungen blauen Augen. Geboren wurde sie, als das alte Europa endgültig zusammengebrochen war: im Jahr 1918. 44 Kilogramm wog sie bei 155 Zentimetern Körpergröße, als sie am 7. Mai 1945 im KZ-Außenlager Zwodau nahe Flossenbürg von amerikanischen Soldaten befreit wurde. Ein schwarzer GI stand da vor ihr. Fast zwei Meter groß. „Ein richtiger Riese. Ich hatte noch nie zuvor einen so dunkelhäutigen Menschen gesehen“, sagt die 101-Jährige.

Iryna Bjenko-Schul macht aus Zahlen Geschichte. Auf ihrem Sofa in ihrer bescheidenen Wohnung in einem Wohnblock aus Sowjetzeiten am Stadtrand von Lwiw, zu Deutsch Lemberg, kann man viel erfahren. Über Europa, über Träume und Freiheit. Und darüber, wie sich die Ukraine in hundert Jahren gewandelt hat. Ein Land, das seit Mai 2019 von einem Komiker regiert wird.

Wolodymyr Selenskyj ist mit dem Versprechen angetreten, vieles anders zu machen. Die von Russland annektierte Halbinsel Krim zurückzuholen, die Korruption im Land zu bekämpfen, endlich den Krieg in der Ostukraine zu beenden, wo seit 2014 geschätzt 13 000 Menschen ums Leben gekommen sind. Dass es beim Ukraine-Russland-Gipfel eine Annäherung beider Seiten gab, dass Gefangene freigelassen wurden, könnte ein Hoffnungsschimmer sein.

Iryna Bjenko-Schul hat die Hoffnung dennoch früh verloren. 1943 wird die junge Frau in Lwiw verhaftet. Sie hat geholfen, für die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) den Widerstand zu organisieren – vom Schreibtisch aus.

Die Gestapo findet bei ihr Wechselscheine, über die der Finanztransfer der UPA läuft. Die Scheine werden im Untergrund gegen Zloty und Reichsmark getauscht.

Die Rolle der UPA wird in der Ukraine heute unterschiedlich beurteilt. In Lwiw, im äußersten Westen des Landes, gelten Mitglieder der Ukrainischen Aufständischen Armee als Helden, die für eine unabhängige Ukraine kämpften. Vor allem im Osten wird die UPA von Vielen unter anderen Vorzeichen beurteilt. Kritiker sehen sie lediglich als Verbündete der Faschisten. In Lwiw gelten die Rotarmisten für viele als Besatzer, im Donbass sind sie die Befreier. Schwerste Kriegsverbrechen gab es von allen Seiten, ihre Schatten reichen bis in die frischen Schützengräben in der Ostukraine.

Man kann Iryna Bjenko-Schul schwerlich vorwerfen, dass sie dem Faschismus und Diktaturen viel abgewinnen kann. Die 101-Jährige erzählt geduldig, was sie in einem Jahrhundert erlebt hat. Was mit ihr im Gefängnis geschah, wo die Gestapo sie folterte, deutet sie nur an. Es muss schlimmer gewesen sein als ihre Haft in den Konzentrationslagern in Ravensbrück und dem Außenlager Zwodau. Iryna Bjenko-Schul verriet niemanden. Das ist etwas, das ihr niemand nehmen kann. Genauso wenig, wie ihr jemand helfen kann, die Schmerzen aus ihren Händen zu bekommen. Sie kommen regelmäßig, seitdem sie im Konzentrationslager schuftete.

„Die eigene Macht zu missbrauchen, dafür gibt es keine Entschuldigung“, sagt die alte Dame. Nach Kriegsende verschwieg sie den Sowjet-Behörden ihre Gefangenschaft. In dem Chaos aus Umsiedlung und Nachkriegswirren kam sie damit durch. Hätte sie die Unterstützung der UPA eingeräumt, hätte sie das unter Stalin vermutlich aus dem KZ direkt in den Gulag nach Sibirien gebracht. Die junge Frau beendet ihr Studium, arbeitet in der Leitung eines landwirtschaftlichen Instituts, gründet eine Familie. „Vielleicht hätte ich der Sowjetunion eine Chance gegeben, wenn die Völker dort wirklich gleichberechtigt gewesen wären; die Ukrainer ihre Tradition und Sprache hätten leben dürfen. Aber die Russen dominierten die ganze UdSSR, so wie zuvor das Zarenreich.“

1991, als die Ukraine unabhängig ist, „da war meine Freude unendlich groß, so wie unsere Hoffnungen“, erinnert sie sich. Dann kam ein Jahrzehnt des Niedergangs, einer entwürdigenden Armut für so viele in der gerade verblichenen Sowjetunion. Die 1990er Jahre waren für die Menschen in der Ukraine wirtschaftlich ein grausamer Härtefall. „Aber endlich hatten wir unser Land zurück“, sagt Iryna Bjenko-Schul. Machtmissbrauch, den lernte sie in den folgenden Jahren bei so manchem Präsidenten kennen. Die Korruption wucherte immer weiter. „Aber es gab auch Schritte in die richtige Richtung. In ein gemeinsames Europa“, sagt sie. Sie ist stolz auf die „Revolution der Würde“.

Dass im Osten des Landes seit 2014 gekämpft wird, ist für die alte Dame schmerzhaft. Dass in ihrem Land wieder Krieg herrscht, für sie ist das unfassbar. Ebenso wie die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit im Jahr 2019 einen Präsidenten wählte, „der einen Präsidenten im Fernsehen gespielt hat“. Die alte Dame schüttelt den Kopf. „Ich kann noch nicht viel über Wolodymyr Selenskyj sagen. Aber ich befürchte, er hat unser Land nicht im Herzen.“ In Lwiw steht sie mit ihrer Meinung nicht alleine da. Hier konnte Selenskyj ausnahmsweise keine Mehrheit holen.

In der Serie „Diener des Volkes“ mimte Selenskyj einen Geschichtslehrer, der unvermittelt Präsident der Ukraine wird. Vielleicht wäre es gut, er wäre in Wirklichkeit einer. Viele Wunden, unter denen die junge ukrainische Gesellschaft leidet, gehen auf die vergangenen 100 Jahre zurück. Auf die Zeit, die Iryna Bjenko-Schul erlebt hat. Die Oktoberrevolution, Bürgerkrieg. Der Holodomor, die große Hungerkatastrophe, die unter Stalin Millionen Ukrainern das Leben kostete. Zwei Weltkriege, Diktatur, Repression und der wirtschaftliche Fall nach dem Zusammenbruch des Landes.

Der jüngste Präsident in der noch jungen Geschichte der unabhängigen Ukraine setzt auf junge und damit auch unbelastete Gesichter. Bei seinen Abgeordneten in der Partei „Diener des Volkes“ und im Kabinett. Oleksij Hontscharuk, der Ministerpräsident, ist gerade einmal 35 Jahre. Nach den Jahren der schleppenden Bekämpfung der Korruption wollen die Menschen frischen Wind und frische Gesichter. Und Selenskyj liefert.

Eines bleibt gleich zu den Vorgängern: Vergessen werden wie immer die Gesichter, in denen das Leben tiefe Falten zog. Die 11,3 Millionen Rentner. Drei davon leben in einem der alten Häuser aus k.-u.-k.-Zeiten. Es ist dämmrig in der Wohnung und ein wenig unaufgeräumt. Kateryna Matuhura, 85, und ihre Schwester Mariya, 81, kümmern sich um ihren schwerstdementen Bruder Iwan, 76. Zusammen haben sie umgerechnet gut 320 Euro Rente. Das ist deutlich mehr als die Mindestrente. Die liegt derzeit bei knapp 57 Euro. Zum 1. Dezember kamen 2,61 Euro dazu.

Heute kommt Rotkreuzschwester Nadya Masyuk zu Besuch. Sie gibt Spritzen und kontrolliert den Blutdruck. Ihr Gehalt wird mit deutschen Spendengeldern des Roten Kreuzes finanziert, ebenso der Großteil der Medikamente, den die drei Geschwister bekommen. „Eigentlich erhalten nur alte Menschen, die lediglich die Mindestrente beziehen, von uns kostenlose Medikamente. Aber hier sind so viele Krankheiten vorhanden. Und dann müssen die beiden betagten Damen noch ihrem Bruder helfen. Da hat das Rote Kreuz eine Ausnahme gemacht“, erklärt Nadya Masyuk.

Kateryna leidet zum Beispiel an Bronchitis, Asthma, Polyarthritis, Diabetes und Blutdruckproblemen. Ihre Schwester hat Probleme mit dem Herzen, der Schilddrüse, den Augen, Schuppenflechte und Arthrose. „Aber am meisten machen wir uns um unseren Bruder Sorgen.“

„Es schmerzt, ihn so zu sehen“, sagt Kateryna. Iwan war als Ingenieur einst gefragt, war als Spezialist beim Bau von Atomkraftwerken in Bulgarien, Indien und Kuba beteiligt. „Und jetzt ist er völlig hilflos, versteht gar nichts mehr.“ Die Frau kann die Tränen nicht mehr unterdrücken. Neulich lief er unbemerkt aus der Wohnung, als die Schwestern ein Nickerchen machten. Die alten Damen kämpften sich mit ihrer Arthrose auf die Straße, um ihn mit langsamen Trippelschritten zu suchen. Es muss ein unsagbar trauriges Bild gewesen sein.

Wurst, Schinken und Käse, das bleibt für die Geschwister Luxus. Zum Monatsende reicht es nicht einmal mehr für die kleine Fleischbeilage im Borschtsch, der traditionellen Rote-Bete-Suppe, die auf dem kleinen Ofen vor sich hin köchelt. „Mein Gott, es reicht schon so zum Leben kaum aus“, sagt Mariya Matuhura. Für die Medikamente bliebe einfach kein Geld, ohne funktionierende Krankenversicherung.

„Keine Medikamente, das würde unerträglich mehr Schmerzen für die drei alten Menschen bedeuten“, sagt Nadya Masyuk. „Wir lieben unsere Ukraine“, meinen die beiden Schwestern. Aber so haben sie sich ihren Lebensabend nicht vorgestellt. Solange ein Krieg im Land unfassbare finanzielle Ressourcen frisst, wird das Lebensende für die alten Menschen ein grausamer Winter bleiben. Ob der neue Präsident da etwas ändern wird? Die beiden Schwestern lachen leise: „Nein, er wird uns vergessen. Wie seine Vorgänger.“

Till Mayer ist seit vielen Jahren Mitglied dieser Redaktion und berichtet über Altersarmut in der Ukraine. Durch Leser-Spenden entstand so ein kleines Hilfsprojekt mit dem Ukrainischen und Badischen Roten Kreuz in Lwiw. Hier werden

kostenlos Medikamente an bedürftige Rentner verteilt.

Im Netz: www.winter-in-lviv.org und www.tillmayer.de

Das ist die Ukraine

Bevölkerung 42,2 Millionen Hauptstadt Kiew, 2,95 Millionen Einwohner

Fläche 603 700 Quadratkilometer, nach Russland das größte Land Europas Staatsform Parlamentarisch-präsidiale Republik

Staatsoberhaupt Präsident Wolodymyr Selenskyj

Regierungschef Oleksij Hontscharuk

Bruttoinlandsprodukt 130 Milliarden US-Dollar (2018)

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NATO-Generalsekretär Stoltenberg in der Ukraine       -  _
Foto: - (Ukrinform)
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