Es ist kurz nach halb zwei am Dienstagmorgen, als die Vertreterin von Königin Elizabeth II. gefolgt von hauptsächlich konservativen Parlamentariern und begleitet von „Shame on you“-Rufen („Schande über euch“) aus den Oppositionsreihen wieder aus dem Unterhaus schreitet. Im schwarzen Gewand, den Ebenholzstab mit dem vergoldeten Löwen über die Schulter gelegt, führt Sarah Clarke die Abgeordneten hinüber ins Oberhaus, wo schlussendlich vor fast leeren Sitzreihen die Prorogation verkündet wird, die Suspendierung des Parlaments. Manche meinen, mit der sogenannten „Black Rod“, der hohen Beamtin bei den Lords, verlässt auch die parlamentarische Demokratie die Kammer.
Es ist eine denkwürdige Nacht im Königreich, die noch lange in Erinnerung bleiben wird. Abgeordnete der Opposition boykottieren aus Protest gegen die Zwangspause die Zeremonie mit all ihrem Pomp, mit all ihren langen Traditionen. Eine, die aus Zeiten stammt, als alle Macht beim Monarchen lag. Viel Geschichte. Großbritannien eben. Die Politiker halten Zettel in die Höhe, auf denen „Silenced“, „stummgeschaltet“, geschrieben steht. Einige wollen gar den Speaker, John Bercow, davon abhalten, sich zu erheben und Clarke zu folgen, wie es das Protokoll verlangt.
Ein Akt exekutiver Ermächtigung
Es kommt zu tumultartigen Szenen. Die dramatischen Vorgänge im auf Etikette und Zeremoniell bestehenden Unterhaus in Westminster als außergewöhnlich zu bezeichnen, wäre noch eine Untertreibung. Es handele sich um „einen Akt exekutiver Ermächtigung“, sagte ein sichtlich verärgerter Bercow und verweist darauf, dass die Prorogation gegen den Willen der meisten Parlamentarier stattfinde. Noch dazu in Krisenzeiten wie den jetzigen. Der umstrittene Sprecher, der schon fast wie üblich auch in dieser Nacht den Zorn der europaskeptischen Hardliner auf sich zog, hatte am Montag seinen Rücktritt angekündigt.
Der Brexit hat in der Institution Spuren hinterlassen. Die von Premierminister Boris Johnson auferlegte Zwangspause erledigte nun ihr Übriges. Die Opposition befindet sich in offener Revolte, selbst einige Konservative rebellierten gegen den ungewöhnlichen Schritt des Regierungschefs. Nur tun sie das seit gestern Morgen nicht mehr von den abgewetzten grünen Bänken im Westminster-Palast aus. Das Parlament befindet sich in einer fünfwöchigen Zwangspause. Erst am 14. Oktober kehrt es zurück, kurz vor dem EU-Gipfel, bei dem Regierungschef Johnson einen neuen Deal mit Brüssel vereinbaren will. Gelingt ihm die Ratifizierung eines Deals nicht bis zum 19. Oktober, muss er laut No-No-Deal-Gesetz, das am Montag in Kraft getreten ist, um eine Verlängerung der Scheidungsfrist bitten. Der offizielle Stichtag ist der 31. Oktober. Doch trotz des Gesetzes, mit dem Johnsons Gegner einen ungeordneten Brexit zunächst verhindert haben, besteht der Premier auf sein Versprechen, er werde keinesfalls einen Aufschub des Termins beantragen.
Sechs Abstimmungen, sechs Niederlagen
Eigentlich fordert Johnson Neuwahlen. Doch wie bereits in der vergangenen Woche scheiterte er am Montagabend abermals mit seinem Antrag. Die Labour-Partei zeigt sich zwar bereit für einen vorzeitigen Urnengang, will aber zuerst sicherstellen, dass der Premier nicht doch noch einen Austritt ohne Vertrag durchsetzt. Damit erlitt der Premier seit seinem Amtsantritt bereits die sechste Niederlage – in sechs Abstimmungen. Ebenfalls unerfreulich dürfte für Downing Street eine weitere Entscheidung aus dieser Nacht sein. So ging ein Antrag durch, nach dem die Regierung Dokumente zur Notfallplanung bei einem ungeordneten EU-Austritt veröffentlichen muss. Brisanter aber dürfte die Aufforderung an Johnsons Berater sein, ihre Kommunikation zur Planung der Suspendierung des Parlaments offenzulegen.
Im Fokus steht vor allem Dominic Cummings, der kontrovers diskutierte Chefstratege in der Downing Street, den Beobachter für den autoritären Führungsstil des Premiers verantwortlich machen. Welche Strategie verfolgt der Leiter der Brexit-Kampagne vor dem EU-Referendum, der sich gerne als Verfechter des Volkswillens stilisiert? Würde der Premier wirklich das Gesetz ignorieren und ein Schlupfloch finden, um das Land ohne Abkommen aus der EU zu führen? Seine Kritiker drohen damit, den Streit dann vor Gericht auszufechten. Oder aber Johnson tritt zurück. Wer aber im Anschluss – die Konservativen haben ihre Mehrheit im Unterhaus eingebüßt – eine Regierung bilden könnte, ist fraglich.
Ein riskanter Zug
Der altlinke Labour-Chef Jeremy Corbyn ist umstritten, nicht nur wegen seiner unklaren Brexit-Position. Johnson dürfte mit solch einem Schritt auf Neuwahlen hoffen. Es ist ein riskanter Zug. Der nächstliegende Weg aus der Sackgasse wäre vielmehr eine Einigung mit der EU. Hinter den Kulissen wird bereits gemunkelt, Johnson könnte das von seiner Vorgängerin Theresa May ausgehandelte Abkommen leicht abändern, um es dann dem Parlament abermals vorzulegen. So wird spekuliert, dass er den umstrittenen Backstop, die Garantieklausel für eine offene Grenze auf der irischen Insel, auf Nordirland beschränken würde. Die Folge: Nicht zwischen der Republik Irland und der Provinz würden Warenkontrollen stattfinden, sondern im Notfall zwischen Nordirland und Großbritannien.
Es würde sich im Übrigen genau um jenen Vorschlag handeln, den die EU zunächst favorisiert hatte. Den Theresa May aber aufgrund der Empörung der Hardliner in den konservativen Reihen zurückgewiesen und stattdessen auf einen UK-weiten Backstop bestanden hat. Der Rest ist Geschichte.