Kai Uwe Beck wurde vor 46 Jahren ermordet. Er fiel im hessischen Fulda einem Sexualstraftäter zum Opfer. Uwe, wie in seine Geschwister nennen, wurde nur acht Jahre alt.
Sein Täter hat seine lebenslange Freiheitsstrafe von hierzulande üblichen 15 Jahren längst verbüßt. Die anschließend angeordnete Unterbringung in ein psychiatrisches Krankenhaus dauerte nicht lange. 1991 wurde er entlassen. Er lebt als freier Mann im unterfränkischen Aschaffenburg.
Die Hinterbliebenen des Mordopfers haben schreckliches Ereignis nie aufarbeiten können
Uwes Brüder Thomas und Volker Beck sowie seine Schwester Luzie Wess sind nicht frei. Sie sind gefangen in ihren Erinnerungen, sitzen im Gefängnis ihrer Ängste und ihres Schmerzes. Sie, die Hinterbliebenen, haben lebenslänglich. Seit 46 Jahren. Und sie haben das schreckliche Ereignis nie aufarbeiten können. Dieser Eindruck entsteht beim Gespräch der Geschwister mit dieser Redaktion.
All die Jahre hüllte sich die Familie in Schweigen. Der Mord ist ein Tabu. Es gibt eine unausgesprochene Übereinkunft, das furchtbare Schicksal Uwes nicht zu thematisieren. Erstmals reden die Angehörigen darüber.
Mörder soll nach wie vor Kontakt zu Kindern gehabt haben
Auslöser ist eine im Januar veröffentlichte Themaseite in der "Fuldaer Zeitung". Sie holte die schreckliche Tat aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Dies verursachte bei den drei Geschwistern einen Schock. "Wir wussten vorab nichts von den Berichten und sind entsetzt, dass der Mörder darin zu Wort kommt", sagt Thomas Beck. "Ihm wird förmlich ein Heiligenschein aufgesetzt. Das können wir so nicht stehen lassen."
Zudem erfuhren die Geschwister vor wenigen Wochen, dass der Mörder ihres Bruders nach wie vor Kontakt zu Kindern gehabt haben soll. Der Mann soll sich bei einem Projekt einer Schule in Aschaffenburg engagiert und ein Waisenhaus im afrikanischen Sambia besucht haben. Eine Patenschaft zu einem Waisenkind hat er dort laut eigener Aussage übernommen.
Opferschützer Johannes Heibel verfolgt das Leben des Mörders seit fast 30 Jahren
Das ergaben Recherchen von Johannes Heibel, Vorsitzender der Initiative gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen in Rheinland-Pfalz. Heibel hat immer wieder Kontakt zu Familie Beck aufgenommen. Er verfolgt das Leben des Mörders seit fast 30 Jahren.
Laut Recherchen von Heibel lebt eine Lehrerin der Schule mit dem Mann zusammen. Dieser habe nach seinem Besuch in Afrika vor einigen Jahren in der Schule einen Vortrag gehalten. Die Lehrerin habe dazu einen Bericht verfasst.
Leiterin der Schule hat keine Informationen über die Vergangenheit des Mannes
Die Schulleiterin der Aschaffenburger Schule antwortet auf Anfrage, es habe sich bei dem Besuch in Afrika nicht um einen Auftrag der Schule gehandelt. Er sei rein privater Natur gewesen. Darüber hätte die Schule das Waisenhaus in Kenntnis gesetzt – und dies auch dem Mann schriftlich zur Klarstellung mitgeteilt.
Wusste die Schulleiterin von der Vergangenheit des Mannes? Ihr lägen keine Informationen vor, schreibt sie.
Familie des Opfers redet erstmals über den Mord
Das Treffen mit den Angehörigen von Kai Uwe Beck findet nahe Fulda statt. Thomas Beck hat seine Geschwister und die Redakteurin zu sich nach Hause eingeladen. Das Angebot dieser Redaktion haben die drei nur deswegen angenommen, weil der Fokus jetzt erstmals auf sie – auf die Betroffenen – gelegt wird und nicht auf den Täter.
Luzie will nicht als erste sprechen. Sie fordert ihren Bruder Volker auf: "Erzähl Du!"
Thomas, der Jüngste in der Familie, erklärt die Situation: "Wenn, dann haben wir bislang höchstens eine Minute darüber geredet. Jeder wusste, auch im Bekanntenkreis, dass wir das nicht möchten. Wir haben sofort abgeblockt, manchmal sogar mit Aggressionen reagiert." Wir – das waren die Eltern Kurt und Margot und, nach Uwes Tod, noch sieben Geschwister. Die Eltern sind bereits gestorben.
Nach dem 29. April 1976, als Uwe aus ihrem Leben verschwand, war das Unaussprechliche immer präsent. Uwes Ermordung schwebte wie eine dunkle Wolke über der Familie. "Mit einem Schlag war bei uns die Fröhlichkeit verschwunden", sagt Thomas.
Die Mutter hat an jenem unheilvollen Tag kurz vor dem Abendessen ihren zweitjüngsten Sohn zum Einkaufen geschickt. Uwe sollte Eier im A&O-Lebensmittelgeschäft in der Fuldaer Altstadt holen. Es war nur eine Straße von der elterlichen Wohnung entfernt. Dort traf Uwe auf seinen Mörder.
Familie kannte den Mörder, er wollte ihr eine Küche verkaufen
Der damals 22 Jahre alte Mann bat den Jungen, ihm beim Transport seiner Lebensmittel zu helfen. Uwe kannte ihn. "Er arbeitete für ein Möbelgeschäft und wollte unseren Eltern eine Küche verkaufen", sagt Volker, "deshalb war er öfter bei uns zu Hause".
Uwe ging mit dem Mann in dessen Ein-Zimmer-Wohnung, räumte mit ihm die Lebensmittel ein. Und er nahm höflich die Einladung an, mit dem Mann eine Bohnensuppe zu essen.
"Wir wurden zur Hilfsbereitschaft erzogen", erläutert Volker das arglose Verhalten seines kleinen Bruders. "Großfamilien wie wir waren damals nicht sehr angesehen." Das sollte durch gutes Verhalten korrigiert werden. Darauf hätten die Eltern großen Wert gelegt.
Nach dem Essen geschah das Unvorstellbare. Der Mann missbrauchte den Achtjährigen sexuell, schlug und tötete ihn, weil er sich wehrte und schrie. Er versteckte den an Händen und Füßen gefesselten Jungen in einem Schrank in der Mansardenwohnung, zu der er sich Zugang verschafft hatte. Der Täter wusste, dass der Mieter nicht da war. Danach ging er zurück ins Erdgeschoss in sein Zimmer, trank laut seiner Aussage noch ein Bier und einen Schnaps und legte sich ins Bett.
Am Abend des 29. April 1976 begann die großangelegte Suche nach Uwe. Auch seine Familie beteiligte sich. Ein Bruder informierte seine Amateurfunker-Kollegen. Luzie blieb zu Hause, sie erwartete gerade ihr erstes Kind. "Ich sollte mich nicht unnötig aufregen", sagt sie. Sie tat es dennoch.
Brüder des Mordopfers klingelten bei ihrer Suche auch an der Türe des Mörders
Volker, damals 17 Jahre alt, erzählt: "Ich und meine älteren Brüder klingelten in der gesamten Nachbarschaft." Auch beim Mörder. "Ich sehe ihn noch vor mir, er hatte eine Decke um die Schultern gelegt, als er uns die Türe öffnete." Der Mann verneinte, dass er Uwe gesehen hat. "Dann sind wir halt weitergezogen."
Drei Tage später, am 1. Mai 1976, fand die Polizei den Jungen in der Dachwohnung. Schnell fiel der Verdacht auf den Mann im Erdgeschoss. Unter anderem wegen der Bohnensuppe. Es war die letzte Mahlzeit von Uwe, stellte sich bei der Obduktion heraus. Im Abfall des Mannes lag die Dose. Der bereits vorbestrafte Mann gab die Tat zögerlich zu. Im November 1976 begann der Prozess.
Uwes Vater erlitt nach der Todesnachricht einen Herzinfarkt
Uwes Vater erlitt nach der Todesnachricht einen Herzinfarkt. Thomas, der Jüngste der Familie, war damals sieben Jahre alt. Er weiß keine Einzelheiten mehr, erinnert sich aber an die Auswirkungen. "Die ganze Familie hat sich verändert. Komplett."
Und sie wurde alleine gelassen. "Heute wird sofort psychologische Betreuung angeboten, damals war das nicht so", sagt Luzie. Im Gegenteil. Die Becks erlebten vielmehr unsensible Verhaltensweisen. Sie belasteten die Familie zusätzlich.
So habe ein Polizist bei seiner Befragung zur Mutter gesagt: "Was machen Sie sich denn verrückt, Sie haben doch genug Kinder." Volker regt sich noch heute darüber auf: "Unfassbar!" Luzie erinnert sich: Als die Mutter nach Uwes Tod das noch ausstehende Kindergeld abholen wollte, soll ihr an den Kopf geworfen worden sein, was sie denn damit wolle, ihr Kind sei doch tot.
Ja, Uwe war tot. Aber er saß für alle noch mit am Familientisch. An seinem Geburtstag gab es für ihn ein Geschenk. Das erhielt danach der Jüngste, Thomas. Auch an Weihnachten lag ein Päckchen für ihn unterm Baum. Nur mit diesen rührenden und zugleich hilflos wirkenden Gesten, nicht aber in Gesprächen versuchte sich die Familie an Uwe zu erinnern.
Uwes Mörder will kürzlich das Grab seines Opfers auf dem Fuldaer Friedhof gesucht haben
Am Todestag gingen Eltern und Geschwister zum Friedhof. Sie blieben jedoch alleine in ihrer Trauer. Am Grab habe die Mutter einmal zu Luzie gesagt: "Uwe wollte immer einen Blumengarten. Jetzt hat er ihn."
Im Bericht der "Fuldaer Zeitung" wird Uwes Mörder zitiert. Er habe kürzlich auf dem Friedhof das Grab gesucht, aber nicht gefunden. Die Geschwister glauben das nicht. "Damit will er sich doch nur in ein gutes Licht rücken", sind sich die drei einig.
"Wenn der plötzlich vor meiner Türe stehen würde, ich wüsste nicht, was dann geschieht", sagt Thomas und hofft, dass er nie in diese Situation gerät. "Womöglich zerstöre ich dann durch eine Kurzschlusshandlung mein Leben und das meiner Familie." Und dann würde der Mörder zum Opfer.
Bei der Urteilsverkündung 1976 in Fulda gab es Tumulte
Bereits beim Prozess 1976 am Landgericht Fulda kochten die Emotionen. Ein Bruder von Uwe schlug dem Mörder vor der ersten Verhandlung ins Gesicht. Bei der Urteilsverkündung gab es Tumulte. Besucher der Verhandlung wollten den Verurteilten auf ihre Weise richten. Der Mann brachte sich mit einem Sprung über den Richtertisch in Sicherheit, steht in einem alten Zeitungsbericht.
Die Becks lebten weiter. Sie litten. Sie saßen beisammen und waren doch getrennt durch unsichtbare Mauern, die jeder um sich gebaut hatte. Schlimm war für Thomas das bedrückende Schweigen. "Früher war es lustig bei uns, wir hatten Spaß am Leben, das gab es plötzlich nicht mehr", erzählt Thomas stockend. "Wir haben unsere Gefühle voreinander versteckt. Ich habe selbst mit meiner Frau nicht darüber gesprochen."
Schwester des Mordopfers konnte ihren Kindern kaum ihre Liebe zeigen
Auch Luzie erkennt, dass sie Schwierigkeiten hatte. "Es war alles so abgestumpft in mir." Sie konnte ihren Kindern kaum ihre Liebe zeigen, habe sie aber sehr behütet und umsorgt. Erst gegenüber ihren Enkeln sei sie lockerer geworden. Die könne sie auch mal in den Arm nehmen, knuddeln.
Volker sagt, er habe nach der Tat sehr auf seine jüngeren Geschwister geachtet. Auf Thomas, der das durchaus genoss. Wenn er auf dem Spielplatz Ärger hatte, wusste er, dass seine Geschwister sofort an seiner Seite waren. Volker passte auch seine jüngere Schwester Eva auf. "Sie hat darunter gelitten. Denn ihr durfte sich kein Mann nähern." Bei einem Verehrer habe sie ihm das sehr übelgenommen.
Alle lachen, kaum ist der Satz ausgesprochen. Befreiend ist es nicht. Die Fröhlichkeit ist schnell vorbei.
Fotos von Uwe gibt es, aber nicht an den Wänden. "Ich könnte nicht jeden Tag an ihm vorbeilaufen", sagt Thomas. Und bei Filmen, in denen es um Kindermord geht, "schalte ich sofort um".
Hilft den Geschwistern heute darüber zu reden? Nein, sagen alle drei. Zum Reden, zum Aufarbeiten sei es zu spät. Sie wollten nur jetzt erzählen, wie es für sie war. Vor allem wollten sie dem Mörder nicht die Plattform überlassen.
Bei dem Treffen wirken die Geschwister gefasst. Doch ihre Psyche reagiert. Thomas sagt, dass sein "Knoten im Bauch" während des Gesprächs immer größer wird. Volker kündigt an, dass er wohl einige Tage benötigen wird, um wieder "herunterzukommen". Luzies Hände zittern. Zu aufwühlend sei alles. Nach außen hin versuchen sie dies zu verbergen. Wie all die Jahre zuvor.
Die Geschwister würden nie eine Entschuldigung des Täters akzeptieren
Die Familie lebte noch drei Jahre in unmittelbarer Nähe zu dem Haus, in dem Uwe ermordet wurde. "Wir mussten dort vorbei, haben aber vermieden, es anzusehen, haben es ausgeblendet", sagt Volker. Heute stehen die alten Häuser des Viertels nicht mehr. Sie wurden abgerissen.
Würden die Geschwister eine Entschuldigung des Täters akzeptieren? "Nein", sagen sie, "nie!" Sie erwarten vielmehr, dass er sich von Kindern fernhält und "die Klappe hält". Sie wünschten sich, er wäre tot. Und Uwe würde noch leben.