Attilas Platz wirkt wahrhaft fürstlich: Weiche Polster vor weißen Säulen, lindgrünem Täfer mit Goldrand, an der Wand prächtige Gemälde. Der nach dem berüchtigten Hunnenkönig benannte quirlige Jack-Russell-Terrier teilt sich den Raum mit dem unwahrscheinlichsten aller deutschen Ministerpräsidenten. Dem haben die Beobachter anfangs keine hundert Tage im Amt gegeben. Ein Linker als Landesvater? Im ersten Dreierbündnis einer deutschen Landesregierung? Einer Koalition mit SPD und Grünen, die sich nur auf eine winzige Mehrheit stützt? Das kann nicht gut gehen, das wird nicht halten, hieß es allenthalben. Doch fünf Jahre später sitzt er noch immer in seinem ausladenden Dienstzimmer in der barocken Pracht der Kurmainzischen Statthalterei in Erfurt. Und dass Bodo Ramelow auch nach den Landtagswahlen am kommenden Sonntag Hausherr in der Staatskanzlei von Thüringen bleibt, ist alles andere als ausgeschlossen. Zwar wird es für seine amtierende rot-rot-grüne Koalition allen Umfragen zufolge nicht mehr reichen. Doch an die Beliebtheit des Mannes mit der markanten Haartolle und der randlosen Brille reicht keiner seiner Mitbewerber heran. Gegen sein Lager eine Regierung zu bilden, dürfte kaum gelingen.
Bodo Ramelow ist eine Ausnahmeerscheinung
Bodo Ramelow ist eine Ausnahmeerscheinung der deutschen Politik und erst recht in seiner Partei, der Linken. Das liegt nicht an den repräsentativen, meist dreiteiligen Anzügen, die seine Frau, Germana Alberti vom Hofe, für ihn auswählt. Mit der italienischen Adeligen ist Ramelow in dritter Ehe verheiratet. Ihren Rat schätzt er ebenso wie ihren Espresso-Kaffee. Nicht nur in der Klatschpresse ist oft von Thüringens „First Lady“ die Rede, was auch viel über den Stellenwert Ramelows in dem 2,1-Millionen-Einwohner-Land aussagt. Der 63-Jährige ist in der Bevölkerung beliebt wie kein anderer Politiker, er gehört zu Thüringen wie die berühmten Klöße und die Rostbratwurst. 62 Prozent der Thüringer sind nach einer Umfrage mit seiner Arbeit zufrieden – ein Traumwert.
Er streichelt die ostdeutsche Seele wie kein anderer
Dabei ist die wohl markanteste Stimme Ostdeutschlands, was viele bis heute kaum glauben mögen, ein Wessi. Und doch vermag er die ostdeutsche Seele zu streicheln wie kein anderer. Beharrlich weigert er sich etwa, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen. Wo sich viele Menschen als Wende-Verlierer sehen, lobt er unermüdlich die Wirtschaftskraft. Stellt heraus, wo Thüringen Weltspitze ist, im Motorenbau etwa. Betont, dass das Land kein Mauerblümchen sei. Sondern, wäre es ein selbstständiger Staat, irgendwo im Mittelfeld der EU-Länder liegen würde. Das Lob geht bei Ramelow stets mit der Klage einher, dass die so fleißigen und redlichen Menschen in Thüringen länger arbeiten müssten und weniger verdienten als im Westen. Dass Ostdeutsche auch nach drei Jahrzehnten noch benachteiligt würden, etwa in manchen Rentenfragen. Und dass Konzerne wie Daimler in Thüringen zwar viel produzieren lassen, ihre Steuern aber größtenteils an die westlichen Stammsitze überweisen.
Die Thüringer, die Ostdeutschen insgesamt, erkennen in dem Linken-Politiker einen der ihren, auch weil dieser selbst nicht nur die Sonnenseiten der Marktwirtschaft kennt. Geboren wird Ramelow in Oosterholt-Scharmbeek in Nordost-Niedersachsen. Als er elf ist, stirbt sein Vater an den Spätfolgen einer Kriegsverletzung. Die Mutter muss als Hauswirtschaftsleiterin hart arbeiten, um ihn und seine drei Geschwister durchzubringen. Ramelow wächst in Rheinhessen auf. Dass er als Kind Legastheniker ist und laut eigener Aussage lange nicht richtig schreiben kann überschattet seine Schulzeit. Nach dem Hauptschulabschluss macht er eine kaufmännische Ausbildung bei Karstadt. Auf dem zweiten Bildungsweg bildet er sich fort, wird Ausbilder und Filialleiter bei einer Handelsfirma in Marburg. In der Studentenstadt hat Ramelow Kontakt zu Mitgliedern der DKP, legt aber Wert auf die Feststellung, den Kommunisten nie beigetreten zu sein. Von 1981 bis 1990 ist er Gewerkschaftssekretär in Mittelhessen.
In dieser Zeit ist Ramelow oft in der DDR, meist aus familiären Gründen: Um Halbgeschwister zu besuchen. So kommt die Gewerkschaft nach der Wende auf ihn zu – sie sucht jemanden, der neue Strukturen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR aufbauen soll. Als er nach Erfurt geschickt wird, will er von seinem Vorgesetzten wissen, um was es denn gehe und was er dort denn erzählen solle. Ihm werde schon was einfallen, bekommt er zu hören. Ramelow fällt in Thüringen dann tatsächlich Einiges ein. Etwa, die Kali-Kumpel von Bischofferode im Kampf gegen die Schließung ihres Bergwerks zu unterstützen. Am Ende sind alle Aktionen vergeblich, doch bis heute haben die Leute im Harz ihm seinen Einsatz nicht vergessen. Ramelow wird schnell Landesvorsitzender der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, bis 1999 bleibt er in diesem Amt. In diesem Jahr tritt er in die damalige PDS ein, die Nachfolgerin der DDR-Staatspartei SED. Auf Anhieb wird Ramelow Spitzenkandidat und zieht in den Landtag ein, später sitzt er auch im Bundestag. Sein Weg in die Erfurter Staatskanzlei ist ein politisches Husarenstück. Aus den Landtagswahlen 2014 geht die CDU mit 33,5 Prozent als stärkste Kraft hervor. Doch der Kaufmann Ramelow, dessen Linke mit 28,5 Prozent nur Platz Zwei bleibt, rechnet scharf nach und verhandelt geschickt. Zusammen mit der SPD und den Grünen schmiedet er eine Koalition, die sich auf eine Mehrheit von nur einem Mandat stützt. Knapper geht es nicht. Viele sind überzeugt, dass das erste Dreierbündnis in einer Landesregierung nicht halten wird.
Einen guten Arbeitsmodus gefunden
Doch Ramelow findet mit SPD und Grünen einen guten Arbeitsmodus. Krach ist selten. Oder besser gesagt: Er dringt nicht nach außen. Ramelow besteht darauf, dass in einem speziellen Raum im Landtag erst so lange hinter verschlossenen Türen gestritten wird, bis die gemeinsame Position steht.
Ramelow regiert Thüringen losgelöst von der zerstrittenen Linken im Bund. Was die Parteispitze sagt und denkt, interessiert den praktizierenden Protestanten wenig. Entgegen der Parteilinie schafft er das Landesamt für Verfassungsschutz nicht ab. Ramelow selbst hatte 2013 erfolgreich gegen seine Beobachtung durch den Verfassungsschutz geklagt. Thüringen führt auch Abschiebungen durch, obwohl die Bundes-Linke das ablehnt. Wenig Pannen, aber auch keine Wunder, könnte Ramelows Bilanz lauten. Lob bekommt er auch von Wirtschaftsvertretern, wenn es um Gewerbeansiedlung und damit Arbeitsplätze gehe, sei Ramelow stets gesprächsbereit. Sein ambitioniertestes Vorhaben scheitert indes. Eine geplante Gebietsreform in dem Land, das gemessen an der Einwohnerzahl außergewöhnlich viele Landkreise und kreisfreie Städte aufweist, lässt sich nicht durchsetzen. Im Wahlkampf ist davon kaum mehr die Rede.
Ramelow gilt als herausragender Redner, beherrscht den staatstragenden Auftritt, aber auch den öffentlichen Zornesausbruch. Besonders engagiert kämpft Ramelow gegen den Landeschef und Spitzenkandidaten der AfD. Björn Höcke ist Gründer und Wortführer des rechtsnationalen „Flügels“ einer Gruppe, die innerhalb der AfD besonders weit rechts steht. Der Verfassungsschutz stuft die Gruppierung als „Verdachtsfall“ im Bereich des Rechtsextremismus ein. Höcke war es, der das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin 2017 als „Denkmal der Schande“ bezeichnet hatte.
Der Wahlkampf wird von Morddrohungen überschattet
Oft ist in diesen Tagen die Rede davon, wie stark sich rechtsextremes Gedankengut in Thüringen ausgebreitet hat. Das gesellschaftliche Klima ist aufgeheizt, der Wahlkampf wird von Morddrohungen gegen Kandidaten überschattet. Und in der Gedenkstätte Buchenwald nahe Weimar erzählt ein Mitarbeiter: „Es gibt seit dem Aufschwung der AfD eine stärkere Neigung, Dinge zu sagen, die vorher unsagbar waren.“
Er berichtet von rechten Gruppen, die eigene Führungen auf dem Gelände machen, auf dem sich zwischen 1937 und 1945 eines der größten Konzentrationslager auf deutschem Boden befand. Die Nazis sperrten hier rund 266 000 Menschen ein, politische Gegner, Juden, Homosexuelle, Kriegsgefangene. Die Zahl der Todesopfer im Lager wird auf etwa 56 000 geschätzt. Immer wieder, so der Gedenkstättenmitarbeiter gebe es Störaktionen von Rechtsextremen. Selbst im Krematorium komme es vor, dass ein Besucher plötzlich „Alles Lüge“ brüllt. Und im Gästebuch tauchten hasserfüllte Einträge auf.
Die von Björn Höcke kontrollierte Thüringen-AfD kommt für keine der anderen Parteien mit Chancen auf den Einzug in den Landtag als Partner in Frage. Hatten in Brandenburg und Sachsen noch einzelne CDU-Funktionäre laut über eine Zusammenarbeit mit der AfD nachgedacht, schließt Thüringens CDU-Chef Mike Mohring ein solches Bündnis kategorisch aus.
Der 47-Jährige hatte im Januar seine Krebserkrankung öffentlich gemacht, den Wahlkampf aber fortgesetzt. Inzwischen ist er genesen. Mit Bodo Ramelow versteht sich Mohring privat ganz gut, beide gehen gelegentlich gemeinsam Wandern. Doch politisch führt sie kein Weg zusammen, das machen der Linke und der Konservative im Wahlkampf immer wieder klar.
Weil Grüne und SPD in Thüringen schwächer sind als anderswo, gibt es wenige Möglichkeiten für mehrheitsfähige Bündnisse. Selbst wenn es Mohring gelänge, Grüne und SPD auf seine Seite zu ziehen – worauf nichts hindeutet – würde es nach der aktuellen Lage nicht für eine Mehrheit reichen. Dazu wäre noch die FDP nötig, von der unklar ist, ob sie überhaupt den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde schafft. Mit der Linken wollen die Liberalen nicht koalieren.
Ramelow hat indes angekündigt, dass er auch ohne Mehrheit für sein Bündnis im Amt bleiben werde. Ein entsprechender Passus in der Thüringer Landesverfassung sieht sinngemäß vor, dass der Ministerpräsident so lange im Amt bleibt, bis ein neuer gewählt ist. Wenn Ramelow seine Mehrheit nicht verteidigen kann, die anderen aber keine neue zustande bringen, dann muss er womöglich noch nicht ausziehen aus der barocken Staatskanzlei. Und Hündchen Attila darf in seinem feudalen Körbchen bleiben.