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BERLIN
Bodo Ramelow: "Der Osten mehrt den Wohlstand des Westens"
Bernhard Junginger
 |  aktualisiert: 11.12.2019 21:28 Uhr

Die Menschen müssten ernst genommen werden, ihre Leistung gewürdigt, erklärt er im Interview. Ramelow ist der erste Ministerpräsident, den die Linkspartei stellt. Seit 2014 steht der ehemalige Gewerkschafter an der Spitze des Bundeslandes Thüringen und führt dort eine Koalition aus Linke, SPD und Grünen.

Frage: Herr Ramelow, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat den Erfolg der AfD in den neuen Bundesländern auch damit erklärt, dass Ostdeutsche oft nicht gehört, geschweige denn verstanden würden. Ist es wirklich so einfach?

Bodo Ramelow: Einfach ist gar nichts, man macht es sich nur oft zu einfach. Damit meine ich ausdrücklich nicht den Bundespräsidenten, den ich als sehr differenziert denkenden und klugen Mann kenne. Mich stört, dass sich die Auseinandersetzung mit der AfD oftmals auf die bloße Empörung über diese Partei und ihre Wähler reduziert. Das ist mir zu wenig und damit betreibt man im Ergebnis nur das Geschäft der Höckes und Gaulands. Ich möchte den Blick lieber inhaltlich auf die immer noch bestehenden Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen lenken und über gerechte Lösungen debattieren.

Welche Unterschiede meinen Sie?

Ramelow: Viele Menschen im Westen unserer Republik dürften noch nie von den gravierenden Ungerechtigkeiten im Rentenrecht gehört haben, unter denen noch heute zahlreiche Frauen in Ostdeutschland leiden. Sie waren in der DDR als sogenannte mithelfenden Ehefrauen oder als geschiedene Ehefrauen rentenanspruchsberechtigt, fielen aber im Vereinigungsprozess aus dem System, weil man im Westen solche Kategorien gar nicht kannte. Diese Frauen kämpfen seit 30 Jahren um ihr Recht, doch nichts passiert. Oder nehmen Sie das Beispiel, dass die typische Datsche im Osten einen Quadratmeter größer ist als das Gartenhaus im Westen und deshalb bei dem früheren Erhebungssystem der Rundfunkgebühren wie ein Einfamilienhaus hätte behandelt werden müssen. Daraus entstehen Verletzungen, und wer die als Petitessen abtut, handelt politisch fahrlässig. Das Problem ist dabei gar nicht mal der Einigungsvertrag, niemand ist vor Fehlern gefeit. Aber es verbittert viele Menschen, dass nie ernsthaft versucht wurde, solche damals entstandene Probleme endlich zu korrigieren.

Früher redeten Politiker gern vom „Jammer-Ossi“, heute wollen nun plötzlich alle den Menschen in Ostdeutschland zuhören und ihre Lebensleistung würdigen ...

Ramelow: Es würde schon reichen, wenn die Probleme wie die von mir beschriebene krasse Rentenungerechtigkeit endlich praktisch behoben würden. Das steht ja sogar im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Doch bis heute kennen wir keine Summe, die in den dafür vorgesehenen Härtefallfonds kommen soll. Ebenso wenig ist bekannt, wie die Grundrente umgesetzt wird. Wenn eine Bedürftigkeitsprüfung kommt, wie sie die Union fordert, werden die Ostdeutschen wieder die Gedemütigten sein. Denn dann entscheidet wieder das Einkommen des Partners. Aber es ist ja die Frau, deren Leistungen nicht anerkannt werden. Und stirbt der Partner, steht sie wieder mit der Sozialhilfe da. Umgekehrt wäre es ebenso wichtig, positive Erfahrungen aus Ostdeutschland für ganz Deutschland zu übernehmen. Es würde Vorurteile helfen abzubauen. Die gute Kinderbetreuung wäre so ein Beispiel oder die medizinisch arbeitende Gemeindeschwester.

Glauben Sie wirklich, dass die AfD verschwindet, wenn die von Ihnen genannten Missstände beseitigt sind?

Ramelow: Das weiß ich nicht. Die AfD ist ja auch im Westen stark. Ich freue mich ganz sicher nicht über die Wahlergebnisse. Aber ich habe auch keine Lust, den Osten immer nur über die AfD erklärt zu bekommen. Alle neuen Länder über die 25 Prozent AfD-Wähler zu definieren, ist unredlich und wird der Realität nicht gerecht. Den Ostdeutschen wird ja bis heute – ich spitze zu – gesagt: Ihr seid undankbar, Ihr seid doof und ihr wählt Mist. Das schmerzt tief. Ich möchte viel lieber über die Leistungen sprechen, die die Menschen in Ostdeutschland erbringen. Die Menschen arbeiten hier zwei Stunden pro Woche länger und haben auf der anderen Seite im Schnitt 20 Prozent weniger Lohn. Der Osten mehrt auch den Wohlstand des Westens.

Mehrt der Osten nur den Wohlstand des Westens oder nicht schon auch den eigenen?

Ramelow: Von den 500 führenden Konzernen in Deutschland haben 462 ihren Sitz im Westen. Dort findet dann auch die volkswirtschaftliche Gesamtabrechnung statt. Die Standorte im Osten gehen fast leer aus. Es wäre schön, wenn wir das Steuerrecht so erweitern würden, dass der Wertschöpfungsanteil jeweils der Kommune zu Gute kommt, in der er erwirtschaftet wird. Daimler hat zum Beispiel sein Motorenwerk hier in Kölleda, jeder dritte Daimler weltweit bekommt seinen Motor aus Thüringen, volkswirtschaftlich gutgeschrieben wird nur der Materialwert. Wir tragen viel zum deutschen Erfolg bei, haben aber fast nichts davon. Jedenfalls ist die Steuerkraft unserer Gemeinden nicht einmal bei 70 Prozent des Durchschnitts.

 
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