Avi Primor, 84, wurde 1935 in Tel Aviv geboren. Von 1993 bis 1999 war er israelischer Botschafter in Deutschland. Primor ist heute als weltweit renommierter Publizist, Buchautor und Wissenschaftler tätig. Im Interview spricht er über die langfristigen Folgen eines ungebremsten Siedlungsbaus im Westjordanland und schildert, warum sein Heimatland nicht aus der Regierungskrise findet.
Frage: In Ihrer Heimat gibt es ein politisches Patt. Kann ein wegen Korruption angeklagter Premierminister das Land aus der Krise führen?
Avi Primor: In Wirklichkeit sind die Verdachtsmomente gegen Benjamin Netanjahu viel gravierender, als öffentlich bekannt ist. Der Staatsanwalt, der eigentlich als Mann Netanjahus galt, hat das Verfahren immerhin vorangetrieben. Die Anklagepunkte sind aber nicht so schwerwiegend, wie der Regierungschef befürchten musste. Dennoch, es geht dabei ganz klar um Korruption. Das ist natürlich mit dem Posten eines Premierministers nicht vereinbar.
Das scheint Netanjahu nicht zu stören.
Primor: Für ihn ist entscheidend, dass er, so lange er Premierminister ist – anders als die einfachen Minister – Immunität besitzt und nicht vor Gericht gestellt werden kann.
Sie glauben also, dass er alles tun wird, um im Amt zu bleiben?
Primor: Er ist zweimal damit gescheitert, eine Regierung zu bilden. Seit der letzten Wahl ist Netanjahu nicht mehr Chef der größten Partei. Das blau-weiße Bündnis von Benny Gantz hat einen Sitz mehr in der Knesset. Aber auch Gantz konnte keine Regierungsmehrheit organisieren. Bliebe die Möglichkeit einer große Koalition zwischen Likud und Blau-Weiß mit einem Wechsel auf dem Posten des Regierungschefs nach zwei Jahren. Allerdings hat Gantz die Bedingung gestellt, dass er die ersten beiden Jahre amtiert. Dann allerdings würde Netanjahu für zwei Jahre seine Immunität verlieren. Er müsste vor Gericht.
Und nun?
Primor: In wenigen Tagen endet die Frist zur Regierungsbildung. Ich halte Neuwahlen im März für wahrscheinlich. Bis danach eine Regierung steht, hätte Netanjahu mindestens sechs Monate Ruhe vor einer Strafverfolgung. Das ist gut für ihn, aber schlecht für seine Likudpartei. Analysten gehen davon aus, dass viele Wähler sie für Neuwahlen verantwortlich machen würden.
Im Likud regt sich Widerstand. Netanjahus innerparteilicher Konkurrent Gideon Saar hat die Machtfrage in der Partei gestellt. Hat er eine Chance?
Primor: Das glaube ich nicht. Netanjahu hat sich in den letzten Jahren eine stabile Machtposition in der Partei aufgebaut. Außerdem hat der Likud noch nie seinen Vorsitzenden entmachtet.
Was bedeutet die Blockade für Israel?
Primor: Eine echte Katastrophe. Die Bevölkerung ist tief gespalten. Die Anhänger von Netanjahu und dem Likud glauben an den Premierminister wie an einen Propheten. Ob er etwas richtig oder falsch gemacht hat, ob er Verbrechen begangen hat – er ist der König, er hat alle Rechte. Das hat religiöse Züge. Aber so denken seine Stammwähler.
Sie sind viel unterwegs, um für Frieden zwischen Israel und den Palästinensern zu werben. Befällt Sie angesichts der Rückschritte nicht Resignation?
Primor: Resignation ist das richtige Wort. Ich glaube, dass das rechte Lager – also der Likud und viele kleinere, zum Teil extreme Parteien – in Israel eine strukturelle Mehrheit hat. Eine Mehrheit wiederum unter denen, die rechts wählen, ist gegen eine Annexion der besetzten Gebiete. Gleichzeitig sagen sie, dass eine Übereinkunft nicht möglich sei, weil die Palästinenser Krieg wollen und zu gefährlich sind. Das ist ein echter Quatsch, weil die Palästinenser so viel schwächer sind als Israel. Aber eine Mehrheit glaubt das.
Ist eine Räumung der Gebiete angesichts des ungebremsten Siedlungsbaus nicht längst unmöglich?
Primor: Wenn wir Ostjerusalem und die besetzten Gebiete zusammenzählen, dann wohnen dort bereits 500 000 Juden. Ihnen stehen rund 2,5 Millionen Araber gegenüber. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird Israel irgendwann annektieren müssen. Dort gibt es seit über 50 Jahren eine militärische Besatzung, das kann man nicht ewig so weiterführen. Das wünschen sich ja viele im rechtsextremistischen Lager in Israel. Doch dann hätten wir zusammen zu den 2,5 Millionen Arabern, die jetzt schon in Israel leben, weitere 2,5 Millionen. Angesichts der Geburtenrate in den besetzten Gebieten stellen die Araber dann in absehbarer Zeit die Mehrheit. Dann können wir den Staat Israel im Parlament in Jerusalem abschaffen.
Das würden die rechten Parteien kaum zulassen.
Primor: Dann gibt es nur noch den Ausweg Apartheid mit weniger Rechten für einen Teil der Bevölkerung. Um das zu verhindern, bräuchte man eine Regierung, die den Mut zu einem Gebietsaustausch im Westjordanland entlang der Grenze zu Israel hat. Dazu wären die Palästinenser bereit. Es geht um zwei bis fünf Prozent des Gebietes, in denen sehr viele Siedler leben. Die Siedlungen im Innern des Westjordanlandes müssten geräumt werden. Das beträfe rund 140 000 Siedler. Das wäre heute technisch noch machbar. Ich sehe allerdings nicht den politischen Willen dazu. Aber ich zitiere – mit einem Lächeln – Staatsgründer Ben Gurion: „Wer an Wunder nicht glaubt, ist kein Realist.“