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Auf den Spuren eines Phänomens namens Winfried Kretschmann
Von Ulrike Bäuerlein
 |  aktualisiert: 03.12.2019 11:39 Uhr

Wahrscheinlich reiben sie sich sogar in der Regierungszentrale in Stuttgart die Augen: Mehr Grün war nie. Nicht nur, dass die Grünen in Baden-Württemberg in einer Umfrage von Infratest dimap bei 38 Prozent gelandet waren und damit bundesweit einmalige Werte erreicht haben. Nun überholt Ministerpräsident Winfried Kretschmann im ZDF-Politbarometer in der Liste der zehn wichtigsten Politiker sogar Kanzlerin Angela Merkel – und damit auch den Chef der Bundes-Grünen, Robert Habeck – und belegt den ersten Platz. 40 Jahre, nachdem am 30. September 1979 der erste grüne Landesverband in Sindelfingen gegründet worden war, schaffen es ausgerechnet die Grünen, sich als neue Volkspartei zu inszenieren und zu etablieren.

Zwölf Prozent Vorsprung zur CDU

Während die Grünen im Bund in den Umfragen mit der Union gleichziehen, blickt die CDU in Baden-Württemberg in einen Abgrund: Der Vorsprung der Öko-Partei ist auf zwölf Prozent angewachsen. Und das in einem Land, in dem bis 2011 ein Verlust der Macht für die Schwarzen so undenkbar war wie die Abschaffung der Kehrwoche. Dann, nach Fukushima und dem Stuttgart-21-Desaster, wurde Kretschmann der bundesweit erste und bis heute einzige grüne Ministerpräsident. „Die Grünen bleiben auf dem Teppich, auch wenn der gerade fliegt“, kündigte er damals an. Er hielt Wort und Maß und wiederholte den Vorsatz 2016, nachdem er mit seiner Partei erstmals mit 30,3 Prozent an der CDU vorbeigezogen war. Und auch jetzt, mit der 40-Prozent-Marke in Reichweite, erinnerte er daran, nicht die Bodenhaftung zu verlieren.

Der Garant des grünen Höhenflugs ist und bleibt der 71-jährige Regierungschef. Zur Erleichterung seiner Partei hält er offenbar von Rente wenig, erst vor wenigen Wochen kündigte er an, auch bei der Landtagswahl 2021 antreten zu wollen. Ein Nachfolger drängt sich ohnehin nicht auf. Denn Kretschmanns Stärke speist sich auch aus der Schwäche der anderen: Das Personaltableau der Regierungspartei ist schmal. Kretschmanns Beliebtheit hingegen scheint mit jedem Amtsjahr zu steigen und ist mittlerweile völlig losgelöst von messbaren politischen Ergebnissen unter seiner Ägide. Kretschmann ist Kult, seine Strahlkraft reicht in die ganze Republik und bindet auch junge Wähler an die Grünen – bei ihnen gilt er mit seiner Ernsthaftigkeit und philosophischen Sprüchen statt Sprechblasen als cool. Auch die Südwest-Grünen profitieren von den großen Krisenthemen. Kaum eines, das nicht in ihr klassisches Portfolio fällt: Ob Kampf gegen den Klimawandel, CO2-Ausstoß oder Waldsterben; ob Energie- und Verkehrswende, ob neue Mobilität, Nachhaltigkeit und Artenschutz – keiner anderen Partei wird in diesen Themenfeldern eine vergleichbare Kompetenz zugeschrieben. Die Mobilisierung durch die Klimakämpferin Greta Thunberg dürfte ihr Übriges tun. Dabei sind große grüne Würfe in Baden-Württemberg ausgeblieben. Das Land verfehlt seine Klimaschutzziele für 2020 – obwohl Kretschmann seit 2011 regiert. Und erst kürzlich musste der Regierungschef einräumen, dass Fahrverbote für Diesel der Euronorm 5 in Stuttgart zur Luftreinhaltung doch noch drohen. Dabei hatte er noch im April so etwas wie eine Entwarnung gegeben. Und nicht nur die Opposition wirft einigen Grünen-Politikern und ihrem Gefolge vor, nach acht Jahren an der Macht arrogante Züge zu entwickeln. An Kretschmanns Beliebtheit ändert das alles freilich rein gar nichts.

77 Prozent aller Baden-Württemberger sind mit seiner Arbeit zufrieden oder sehr zufrieden, auf einen solchen Wert kommt kein anderer bundesdeutscher Ministerpräsident. Fast 70 Prozent der Bürger würden ihn direkt wählen. Und selbst 44 Prozent der AfD-Anhänger begrüßen seine erneute Kandidatur. „Als Typ wäre Kretschmann sicher auch in Bayern erfolgreich“, glaubt Kretschmanns Staatsministerin Theresa Schopper, vor ihrem Wechsel nach Stuttgart 2014 zehn Jahre lang Landesvorsitzende der bayerischen Grünen. „Er gibt Orientierung, ist nicht im ideologischen Lager verhaftet und gilt als offen, ehrlich und authentisch“, sagt Schopper und nennt als Gegenbeispiel die „Ergrünung“ von Markus Söder: „Von dem weiß jeder, dass er sein politisches Tableau anstreicht wie eine Theaterkulisse, jetzt eben grün, weil er sieht, wo es hinläuft“, sagt Schopper.

Kretschmann „füllt Amt und Rolle aus“

Authentizität ist auch eines der Wörter, die der Politikwissenschaftler und Dekan der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen, Josef Schmid, bei der Erklärung der „Kretschmania, des Kretschmann-Hypes“ verwendet. „Je glatter die Konkurrenz ist, je mehr Berater mitmischen, umso authentischer wirkt Kretschmann“, sagt Schmid. „Er füllt Amt und Rolle aus, hat ein ausgleichendes Naturell, nimmt sich nicht so wichtig, vermittelt nicht den Eindruck, alles besser zu wissen, gilt als glaubwürdig und macht keinen Unfug. Je komplexer und unverständlicher politische Prozesse, umso wichtiger die Persönlichkeit.“ Für eine reine Momentaufnahme hält der Wissenschaftler den Umfragewert von 38 Prozent für die Grünen allerdings nicht: „Kretschmann hat eine Lanze ins bürgerliche Lager hinein gebrochen und mittlerweile viele Wechselwähler an die Grünen gebunden“, glaubt er.

Ein Selbstläufer ist der Höhenflug der Grünen im Südwesten aus Sicht von Schmid aber nicht. „Es gibt immer wieder Potenzial für eine extreme Verschiebung“, sagt er. „Das kann eine Krise wie etwa ein wirtschaftlicher Einbruch sein, ein dummer Zufall, ein Skandal oder ein Eigentor des Gegners.“

 
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