Die meisten Interviews für die traditionellen Politiksendungen der amerikanischen Kabelsender am Morgen waren schon aufgezeichnet und ein paar abwiegelnde Statements abgesondert, als die USA am Sonntag in einer völlig veränderten Realität aufwachten. Die militant-islamistischen Taliban hätten die Außenbezirke von Kabul erreicht, im Präsidentenpalast werde über die Einsetzung einer Übergangsregierung verhandelt, meldeten die Agenturen. Der Nachrichtensender CNN hatte sichtlich Schwierigkeiten, der neuen Nachrichtenlage mit der Berichterstattung hinterherzukommen.
Erneut hatte Amerika die dramatische Geschwindigkeit unterschätzt, mit der am Hindukusch ein 20-jähriger Einsatz von Militär und fast einer Billion Dollar komplett ausradiert wird. Er habe ein "sehr produktives Gespräch" mit seinem kanadischen Amtskollegen Marc Garneau über "eine diplomatische Lösung in Afghanistan" geführt, twitterte US-Außenminister Antony Blinken am Samstagabend zufrieden. Auch berichtete er von einem Gespräch mit dem afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani über "die aktuelle Sicherheitssituation und unsere dringenden diplomatischen und politischen Bemühungen, die Gewalt zu verringern".
Präsident Ghani hat Afghanistan verlassen
Da schufen die Taliban am Boden längst Fakten. Die amerikanischen Fernsehsender zeigten am Sonntag Bilder von Taliban mit wehenden Fahnen vor Kabul und übertrugen das permanente Knattern der schweren US-Militärhubschrauber über der US-Botschaft. Wenig später meldete die Agentur AP, Ghani habe das Land verlassen. Noch im Juni hatten die US-Geheimdienste einen Kollaps von Kabul frühestens in sechs bis zwölf Monaten erwartet. In der vorigen Woche verkürzten sie die Frist auf 90 Tage. "Die Botschaft bleibt offen", betonte der amerikanische Außenamtssprecher Ned Price am Donnerstag trotzig. Alles das ist Makulatur.
Erst am Samstag kündigte Präsident Joe Biden eine weitere Verstärkung der amerikanischen Truppenpräsenz in Kabul an. Statt der geplanten 3000 werden nun 4000 Soldaten geschickt, um die Evakuierung des Botschaftspersonals abzusichern. Wieviele Soldaten tatsächlich noch rechtzeitig landen würden, war am Sonntag aber unklar: 1000 US-Soldaten befanden sich ohnehin noch im Land, rund 1000 waren am Morgen (US-Zeit) gelandet. Der Rest trifft wohl in den nächsten Tagen ein.
Hektisch werden geheime Unterlagen vernichtet
Für die Amerikaner aber geht es nun um Stunden. Bis Dienstag, also binnen 72 Stunden, sollen alle Angehörigen des diplomatischen Dienstes das Botschaftsgebäude in Richtung Flughafen verlassen haben, hieß es am Sonntagmorgen. Die allermeisten werden das Land verlassen, nur eine kleine Kernmannschaft soll vorübergehend am Airport ausharren. Seit Tagen werden hektisch geheime Unterlagen vernichtet.
Der Präsident verfolgt die Entwicklung derweil von seinem Landsitz in Camp David. Einen ursprünglich geplanten Urlaub an der Küste von Delaware hatte Biden angesichts der dramatischen Entwicklung abgesagt. In Camp David steht er in dauerndem Kontakt mit seinen Sicherheitsberatern. Am Samstag veröffentlichte er ein längeres Statement, das wie ein abschließender Kommentar zu dem 20-jährigen Engagement der Amerikaner am Hindukusch klang.
Amerika sei vor 20 Jahren in Afghanistan einmarschiert, um "die Kräfte zu schlagen, die dieses Land am 11. September angegriffen haben", argumentierte er. Diese Mission sei mit dem Tod von Osama Bin Laden vor zehn Jahren erfüllt worden. Ein weiterer Verbleib der US-Truppen mache keinen Sinn: "Ein oder fünf Jahr längere US-Militärpräsenz würde nichts verändern, wenn das afghanische Militär sein eigenes Land nicht verteidigen will oder kann."
Ausdrücklich gab Biden seinem Vorgänger Donald Trump eine Mitverantwortung für das aktuelle Debakel: "Als ich das Amt antrat, erbte ich einen von meinem Vorgänger ausgehandelten Deal (...) der die Taliban militärisch in die stärkste Position seit 2001 brachte