Zu den Grundsätzen der britischen Politik gehört: Ein amtierender Premierminister verliert seinen Wahlkreis nicht. Nur kann man in Großbritannien zwei Wochen vor der Parlamentswahl gar nichts mehr ausschließen. Nun gibt es tatsächlich eine Umfrage, die genau das besagt: Regierungschef Rishi Sunak verliert seinen Wahlkreis - und damit seinen Sitz im Parlament in London. Als erster Premierminister der Geschichte.
Sein Wahlkreis ist Richmond and Northallerton: Viel konservativer als hier im englischen Norden, rund 340 Kilometer von London und bekannt für den Yorkshire-Tee, geht es eigentlich nicht mehr. In Umfragen liegt Sunaks Konservative Partei landesweit konstant rund 20 Punkte hinter der sozialdemokratischen Labour-Partei. Viele Tories müssen um ihre Mandate fürchten. Aber nicht der Kandidat in Richmond. Eigentlich.
Landschaft aus dem Bilderbuch
Schmale Straßen winden sich hier an hohen Hecken entlang durch die Felder, auf denen Kühe und Schafe weiden. Bei Gegenverkehr wird es eng. Ein Bilderbuch-England.
An einem dieser Wege liegt auch Rishi Sunaks Anwesen. Der Premier stammt aus Southampton am Ärmelkanal, er hat das Herrenhaus im Weiler Kirby Sigston erworben, als er 2015 erstmals hier kandidierte. Neugierig tapst ein Fasan aus einer Hecke, sonst gibt es für die Besatzung des Polizeiwagens, der in einer Feldeinfahrt parkt, nichts zu sehen.
Sunak hat damals übernommen, was in Großbritannien „safe seat” genannt wird: ein sicherer Sitz im Parlament. Die Zusammensetzung des Wahlkreises, der zuletzt nur Richmond hieß, ist zwar leicht verändert. Doch das dürfte normalerweise nichts an der Dominanz ändern. Die Konservativen halten das Mandat seit mehr als 100 Jahren, 2019 holte Sunak hier 37.000 Stimmen - ein Vorsprung von 27.000. Nur die Siegerin oder der Sieger eines Wahlkreises erhält das Mandat.
Sunak wird durchaus geschätzt
Und jetzt droht dem 44-Jährigen womöglich eine historische Pleite. Wer sich in den Örtchen Northallerton und Richmond umhört, bekommt den Eindruck, dass die Menschen hier Sunak durchaus schätzen. Ja, der Premier habe ein paar Fehler gemacht, sagt der 77-jährige Stanley, der sich auf dem Marktplatz von Richmond auf einer Bank ausruht. Aber er werde ihm nochmal das Vertrauen schenken, Sunak habe gute Ideen.
Andere sind kritischer. Angela sitzt mit einer Freundin in einem Café in Northallerton. Sie findet Sunak sympathisch. Aber sie findet schlecht, dass er die Einkommensteuer nicht senkt. Außerdem hätten die Tories mit ihren Skandalen der vergangenen Jahre zu viel Porzellan zerschlagen. Sie werde Sunak nicht wählen - und auch keinen anderen. Wie die Mittfünfzigerin Angela sind viele Menschen der Politik müde. Falls am Wahltag viele zu Hause bleiben, dürfte das am ehesten die Tories treffen. Von Aufregung vor der Abstimmung ist nichts zu spüren, Wahlplakate sind nicht zu sehen.
Profitieren von einer historischen Tory-Pleite würde Tom Wilson. Der junge Mann kandidiert für die Labour-Partei und dürfte selbst nicht mit mehr als einem Achtungserfolg gerechnet haben. Darüber würde man gerne mit ihm sprechen, doch zu erreichen ist der 29-Jährige nicht.
„Ich hätte Sie für verrückt erklärt”
Im Interview mit der Zeitung „Times” zwingt sich Wilson merklich zur Zurückhaltung. „Es wäre ziemlich monumental. Ich muss aufhören, mit offenen Augen zu träumen”, sagt er. „Hätten Sie mich vor einem Jahr gefragt, ob ich hier gewinnen kann, hätte ich Sie für verrückt erklärt.” Vor sechs Monaten sei er noch sehr, sehr skeptisch gewesen. „Aber jetzt? Wer weiß.” Bei X ruft Wilson dazu auf, taktisch zu wählen. Von den Oppositionsparteien habe Labour die besten Chancen, den Wahlkreis zu gewinnen.
Sunak aber könnte ungewollte Unterstützung erhalten. In Richmond and Northallerton tritt mit Count Binface (auf Deutsch etwa: Graf Mülltonnengesicht) ein Satire-Kandidat an. In dem Kostüm mit Umhang und einer Mülltonne als Helm, das vage an Star-Wars-Bösewicht Darth Vader erinnert, steckt der Komiker Jon Harvey. Der selbst ernannte intergalaktische Weltraumkrieger hat Sunak und die Tories wiederholt lächerlich gemacht. Doch Stimmen für den Satiriker könnten am Ende genau die sein, die dem Labour-Herausforderer fehlen.