zurück
Scheurings Wort zum Samstag: Wie ich Briefträger wurde
Herbert Scheuring
Herbert Scheuring
 |  aktualisiert: 20.08.2021 02:34 Uhr

Ich habe den Roman „Lichtjahre“ von James Salter gelesen. Das Buch gilt als Klassiker der modernen amerikanischen Literatur. Schon im ersten Satz beschreibt Salter einen Fluss, dessen Wasser „glatt wie Stein“ ist. Kurz darauf heißt es: „Der Tag ist weiß wie Papier.“ Das ist sehr schön ausgedrückt. Dann beschreibt Salter ein Pony, dessen Ohren „fest wie ein Schuh“ sind. Beim Weiterlesen begegnete ich einem Mann mit einem Atem „wie der eines Onkels, dem es nicht mehr so gut geht“, und einer Frau, die ihr Lachen zurückließ wie ein Kleidungsstück, „wie abgestreifte Strümpfe, wie einen Bademantel am Strand“. Zudem erfuhr ich: „Ein schlechtes Hemd ist wie die Geschichte von einem hübschen Mädchen, das nicht verheiratet ist.“ Spätestens da wurde mir klar, dass der Autor ein Freund, vielleicht ein zu guter Freund bildhafter Vergleiche ist. Da knackt das Holz im Kamin „wie ferne Schüsse“, Straßen wirken „wie ein müdes Gesicht“. Ein Mann hat ein „Kinn mit einer tiefen Einkerbung wie ein deutscher Briefträger“. Dafür sind sie ja bekannt, die deutschen Briefträger – für ihr Kinn mit der tiefen Einkerbung. Anderswo findet man das nicht. Als ich dann auch noch las, dass eine Frau wie „eine einsame Stute auf der Weide“ graste, knackte es in meinem Kopf wie ferne Schüsse, mein Gesicht wurde weiß wie Papier und mein Gehirn fest wie ein Schuh, mein Atem war plötzlich wie der eines Onkels, dem es nicht mehr so gut geht, ich fühlte mich wie ein schlechtes Hemd, das nicht verheiratet ist, bekam schließlich eine tiefe Einkerbung im Kinn und beschloss daher, künftig als deutscher Briefträger zu arbeiten.

Immer informiert sein und
14 TAGE GRATIS testen
  • Alle Artikel in der App lesen
  • Bilderserien aus Mainfranken
  • Nur 9,99€/Monat nach der Testphase
  • Jederzeit monatlich kündbar