Sebastian Kurz war gerade mal 16 Jahre alt, als ein politisches Beben die steirische Kleinstadt Knittelfeld erschütterte. Munitioniert von ihrem früheren Vorsitzenden Jörg Haider putschte die FPÖ gegen ihre Parteioberen – womit auch das Bündnis mit der konservativen Volkspartei zu Ende war. Bei den anschließenden Neuwahlen verloren die Rechtspopulisten knapp zwei Drittel ihrer Wähler. Der damalige Kanzler Wolfgang Schüssel aber entschied sich trotzdem für eine Neuauflage der Koalition mit der FPÖ, die jedoch mehrere Ministerämter abgeben musste.
Was Knittelfeld für Schüssel war, könnte das Ibiza-Video mit Heinz-Christian Strache nun für Kurz werden. Auch seine Allianz mit den Freiheitlichen ist jäh zerbrochen, auch diesmal steht die FPÖ nach der vorgezogenen Wahl deutlich schlechter da als zuvor – und auch diesmal ist eine Neuauflage der Koalition nicht ausgeschlossen. Jenseits aller schwarz-grünen Gedankenspiele, die Österreich seit einer Woche beschäftigen, sitzt Kurz ja in einer argumentativen Falle: Er will seinen Mitte-Rechts-Kurs fortsetzen, kann dieses Wahlversprechen aber an der Seite von Sozialdemokraten oder Grünen kaum erfüllen. Mit einer halbwegs geläuterten FPÖ ginge das aus seiner Sicht schon eher. Migration, Wirtschaft, Steuern: Mit keiner anderen Partei sind die Schnittmengen größer.
Kurz muss auf eine stabile Tektonik seiner Regierung achten
Auf der anderen Seite ist Kurz klug genug, um sich nicht noch einmal in ein politisches Vabanquespiel wie das mit der Strache-FPÖ zu stürzen. Nach zwei vorzeitig geplatzten Koalitionen muss er mehr denn je auf eine stabile Tektonik seiner neuen Regierung achten – keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem seit Schüssel nur ein Kanzler länger als zwei Jahre durchgehalten hat – der Sozialdemokrat Werner Faymann. Bis vor wenigen Jahren wäre ein Bündnis aus ÖVP und SPÖ noch der direkte Weg aus diesem strategischen Dilemma gewesen. Kurz aber ist nicht zuletzt deshalb so populär, weil er der-rot-schwarzen Vetterleswirtschaft in Österreich den Kampf angesagt und eine Große Koalition demonstrativ beendet hat. Jetzt wieder mit der SPÖ zu paktieren, würde schwer an seinem Ruf als Erneuerer kratzen – es sei denn, es gelänge ihm, den Sozialdemokraten große Zugeständnisse in der Asyl- und der Wirtschaftspolitik abzutrotzen.
Schwarz-Grün würde nur die Populisten stärken
Im Moment aber sieht es eher nach dem Gegenteil aus. Bei allen drei potenziellen Partnern gibt es teilweise massive Vorbehalte gegen ein Bündnis mit Kurz. Grünen und Roten ist er viel zu konservativ – und die tief gefallene FPÖ überlegt noch, ob es nicht schlauer wäre, in der Opposition wieder Profil zu gewinnen. Sich einfach in ein schwarz-grünes Abenteuer zu stürzen, wie es Kurz von allen Seiten suggeriert wird, würden ihm seine Wähler nur schwer verzeihen. Überdies wäre eine Koalition mit den Grünen ein Konjunkturprogramm für die Rechtspopulisten, die sich täglich neu über die laxe Migrationspolitik der Regierung ereifern könnten.
Deshalb, vor allem, spielt der Taktiker Kurz auf Zeit. Sollten die Gespräche mit Sozialdemokraten und Grünen scheitern oder seine Volkspartei einen zu hohen Preis für eine Koalition links der Mitte bezahlen müssen, wird er sich ein türkis-blaues Bündnis mit einer geschwächten und entsprechend pflegeleichteren FPÖ schon aus strategischen Gründen offenhalten. Mit dem Abschied von Strache aus der aktiven Politik ist ein zweites Knitterfeld jedenfalls wieder in den Bereich des Möglichen gerückt. So laut sagen will das in Wien im Moment zwar noch niemand. Gedacht aber wird es sehr wohl.