Thomas Reiter ist ein Mann mit vielen Talenten. Er hat eine Amateurfunklizenz, er hat früh mit dem Segelfliegen begonnen, Fernsehsendungen präsentiert und ein paar Jahre im Vorstand des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) gearbeitet. Bekannt aber wurde der 60-Jährige als Astronaut. 1995 flog er zur russischen Raumstation Mir, elf Jahre später dann zur internationalen Raumstation ISS. Mit fast einem Jahr im All ist er der deutsche Raumfahrer mit der größten Erfahrung im Orbit.
Thomas Reiter: So würde ich das nicht nennen. Natürlich gibt es nach vier Monaten an Bord auch mal einen Montag, an dem man vielleicht nicht so motiviert ist, oder ein Experiment, das nicht so interessant ist wie andere. Am Ende aber entschädigt einen der fantastische Ausblick da oben für fast alles. Außerdem hat die ISS heute deutlich mehr Platz als zu meiner Zeit – sie ist innen inzwischen so groß wie ein Jumbojet.
Reiter: Weil man sich im Orbit ja auf eine Zeit einigen muss, richtet sich der Tagesablauf nach der Greenwich Mean Time. Generell kann man sagen: Der Tag beginnt für die Astronauten nach ihrem Dienstplan um sieben Uhr morgens mit der Morgentoilette und dem Frühstück, danach folgt eine kurze Besprechung mit dem Kontrollzentrum und dann geht es los mit der Arbeit. Außerdem muss jeder Astronaut pro Tag zweieinhalb Stunden Sport machen, die meisten Kollegen erledigen das vor dem Mittag- und vor dem Abendessen. Gegen 22 Uhr ist dann Feierabend, aus eigener Erfahrung allerdings weiß ich, dass man selten vor Mitternacht ins Bett kommt, weil der Tagesablauf an Bord minutiös durchgetaktet ist und man vorher zum Beispiel gar nicht dazu kommt, mal eine Mail zu beantworten oder etwas zu lesen. Wie unten auf der Erde hat auch die Arbeitswoche auf der ISS fünf Arbeitstage. Samstag und Sonntag sind allerdings nicht komplett frei, da muss auch mal sauber gemacht oder ein Gerät gewartet werden.
Reiter: Auf der Mir waren wir noch viel stärker auf uns selbst gestellt, weil wir während des Tages nur alle 90 Minuten für maximal 20 Minuten Funkverbindung hatten. Mit unseren Familien konnten wir nur am Wochenende kurz sprechen, und zwar im wöchentlichen Wechsel einmal per Funk und die Woche darauf dann per Video. Dazu aber mussten die Familien im russischen Kontrollzentrum sein, alle in einem Raum – und jede Familie durfte fünf Minuten mit „ihrem“ Astronauten sprechen. Heute haben sie praktisch rund um die Uhr und rund um den Orbit eine Verbindung. Da können Sie zwischendurch auch mal schnell zu Hause anrufen. Außerdem gibt es jedes Wochenende eine Art Videokonferenz.
Reiter: Wenn überhaupt, dann erst mit Verspätung. Die Versorgung mit Nachrichten war damals schon sehr spärlich. Heute hat auf der ISS jedes Besatzungsmitglied eine eigene Internetseite, auf die das Kontrollzentrum aktuelle Meldungen, Bilder von der Familie oder die Fußballergebnisse zur Raumstation schickt.
Reiter: Viele Experimente sind klassische Grundlagenforschung. Wir versuchen mit ihnen, bestimmte Vorgänge in der Medizin oder der Physik besser zu verstehen, zum Beispiel biochemische Prozesse in unseren Körpern oder beim Pflanzenwachstum. Im Moment beschäftigen sich viele Experimente mit Immunfunktionen, weil der Körper das Immunsystem in der Schwerelosigkeit massiv zurückfährt. Darüber hinaus geht es aber auch um teilweise sehr konkrete Anwendungen. Die Viskosität, also die Zähflüssigkeit, von bestimmten Legierungen etwa kann ich dort oben wesentlich genauer bestimmen als auf der Erde. Mit solchen Erkenntnissen lassen sich Produktionsprozesse erheblich verbessern.
Reiter: Da kann ich Ihnen ein schönes Beispiel nennen. Wir haben damals mit einem sogenannten Plasma-Kristall-Experiment begonnen. In einem Plasma trennen sich die Elektronen von den Gasatomen, ähnlich wie in einer Leuchtstoffröhre. Aus dieser Grundlagenforschung hat ein eigens gegründetes Unternehmen später ein Verfahren entwickelt, um mithilfe von sogenannten kalten Plasmen Oberflächen zu desinfizieren – zum Beispiel die von Wunden oder die von Operationssälen im Krankenhaus. Und das alles ohne jede Chemie, sondern alleine mit ionisierter Luft.
Reiter: Die Raumfahrt ist heute viel mehr Teil unseres Alltags, als es den meisten Menschen bewusst ist – denken Sie nur an die Satellitenkommunikation, die Navigation oder die Erdbeobachtung. Raumfahrt bewegt sich an den Grenzen des technisch Machbaren, sie ist damit bei weitem nicht der einzige, aber eben auch ein wichtiger Antreiber für industrielle Innovationen. Vor diesem Hintergrund ist es natürlich gut, wenn sich Bund und Länder hier stärker engagieren.