Der interessante Artikel der Migrationsforscherin lässt jedoch noch
einige Fragen offen:
Eine angebotene Erklärung für die Wut der Jugendlichen auf die
Gesellschaft und die Polizei ist die oft "fehlende Vaterfigur" in
Migrantenfamilien, die als "Vorbild und Stolz der Familie" dienen kann
und von der (v.a. männliche) Jugendliche sich zugleich emanzipieren
können. Dies begründet die Autorin damit, dass für viele vorher
gesellschaftlich angesehene und erfolgreiche Familienväter die Migration
mit sozialem Abstieg und damit Bedeutungsverlust verbunden ist. Dies ist
sicher ein Problem; es trifft meiner Ansicht nach jedoch in stärkerem
Maße nicht vorher Hochqualifizierte, sondern vielmehr Männer, die in
ihren Heimatländern auch mit einfachen Arbeitstätigkeiten, z.T. ohne
Berufsausbildung, ihre Familien gut versorgen konnten. Diese Männer
bestehen im günstigen Fall den Integrationskurs auf dem Sprachlevel B1
und können dann nur in niedrig bezahlten, oft sogar prekären, Jobs
arbeiten . Ihre identitätstiftende Rolle und Sicherheit als Ernährer der
Familie ist damit stets gefährdet und zerbrechlich. Scheinbar genügt es
diesen Vätern jedoch, wenn sie ihrer Familie so einen bescheidenen
Wohlstand und entsprechende Statusssymbole (Auto, Großbild-TV usw.)
finanzieren können. Darüber hinaus überlassen sie das familiäre
Engagement ihren Ehefrauen und sind daher für ihre Kinder und
Jugendlichen psychisch zu wenig präsent und greifbar. Warum jedoch
planen und denken einige andere Väter langfristig und schaffen es, mit
großer Willens- und Kraftanstrengung neue berufliche Qualifikationen zu
erwerben, vielleicht sogar eine Berufsausbildung abzuschließen? Warum
sind diese Väter für ihre Kinder wichtige Bezugspersonen und positive
Autoritäten? Was ist in diesen Familien anders? Ich denke, eine wichtige
Rolle spielen die Frauen, die sich ein Stück weit von der traditionellen
dienenden Rolle emanzipieren, sich selbst weiterbilden, evtl. selbst
eine Ausbildung beginnen und von ihren Ehemännern auch erwarten und
einfordern, dass diese sich in das Familienleben einbringen. Und
Männer, die ebenfalls mehr Eigenverantwortung übernehmen, sich trotz
Anstrengung die nötigen Alltagskompetenzen, z.B. im Umgang mit Behörden,
Schulen usw., aneignen und ihre Kinder nicht durch Parentifizierung
überfordern und dadurch langfristig deren Respekt verlieren.
Als Lösungsperspektive nennt die Autorin für die Jugendlichen u.a. "mehr
Bildung, bessere Jobs und das Gefühl, aus ihrem Leben etwas machen zu
können." Das ist unbestritten ein zentraler Punkt. Es gibt mittlerweile
jedoch zahlreiche professionelle Bildungs- und Förderangebote für Kinder
und Jugendliche aus Migrantenfamilien an den Mittelschulen, z.T. auch
Realschulen und Gymnasien, den Berufsschulen, der FOS, dem Bayernkolleg,
durch die Arbeitsagentur usw. Zudem ein breites ehrenamtliches
Engagement. Warum werden diese Angebote nur zu einem Teil gewürdigt und
genutzt? Warum ergreifen einige Jugendliche diese Chancen, lernen und
arbeiten mit hohem Einsatz, erwerben höhere Schulabschlüsse, erlernen
einen qualifizierten Beruf oder studieren? Und verzichten dafür auf
kurzfristige Bedürfnisbefriedigung wie schnelles Geldverdienen sowie
mehr Freizeit und Spaß? Ich denke, in diesen Familien mit zielstrebigen
und erfolgreichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund - die keine
Steine auf Polizisten werfen! - vermitteln und leben Väter UND Mütter
einen anderen Lebenssinn: Echten emotionalen Familienzusammenhalt
anstatt nur traditionelle Familienfassade, Lernen und Bildung als
eigenständige Werte (und nicht nur ergebnisorientiert wegen der Noten
oder aufgrund von Druck!) , langfristige Zukunfts- und Lebensplanung
anstatt nur kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung, Verantwortung für das
eigene Leben übernehmen anstatt auch Jahre nach der Migration immer noch
auf fremde Hilfe oder die eigenen Kinder angewiesen sein. Die
perspektivlosen Jugendlichen hingegen wachsen eher mit psychisch
schwachen oder passiven Vätern und Müttern sowie einer materialistischen
und berechnenden Wertorientierung auf, die zum Ziel hat, mit dem
geringstmöglichen Einsatz den höchsten materiellen Effekt zu erzielen.
Dies misslingt dann jedoch und daraus erwachsen Frustration und Wut.
Eine Lösungsstategie kann sich daher nicht auf die Verbesserung äußerer
Umweltbedingungen beschränken, sondern muss diese "weichen" , aber
mächtigen familiären Sozialisationsfaktoren berücksichtigen.
Jutta Brander und Mark-Björn Geibel, 97532 Üchtelhausen