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Die Premierministerin regiert auf Abruf
Zum Artikel "Nach der Wahl in Großbritannien: Was wird jetzt aus dem Brexit?" (10.6.):
Redaktion
 |  aktualisiert: 29.06.2017 04:05 Uhr
Theresa May hat sich wie ihr unglücklicher Vorgänger David Cameron gnadenlos verzockt. Auch wenn sie das jetzt öffentlich beiseite schiebt. Die von ihr im Alleingang im April zu allgemeiner Überraschung sogar ihrer konservativen Partei der Torys verkündeten Parlamentswahlen erwies sich als Fehlkalkulation. Gehofft hatte sie nach zuvor starken Umfrageergebnissen, ihre Macht für ihren "harten Brexit" ausbauen zu können. Eine starke und stabile Führung hatte sie für die anstehenden Brüsseler Verhandlungen verkündet. Doch die Briten beginnen langsam zu erkennen, was der Ausstieg aus der Europäischen Union bedeutet und versagten ihrer Premierministerin nach deren miserablem Wahlkampf eine Blankovollmacht. Ihre nunmehrige Minderheitsregierung ist auf die Unterstützung der kleinen nordirischen, stramm rechten Dup-Unionisten mit minimaler Mehrheit von 328 der 326 Parlamentssitze des Unterhauses in Westminster angewiesen. Diese werden sich das etwas kosten lassen. Insbesondere den freien Personen- und Warenverkehr zur benachbarten Republik Irland als weiterhin EU-Mitglied. Damit fällt ein zentrales Wahlversprechen der Brexit-Befürworter in sich zusammen. Das Wahlergebnis bedeutet die Rückkehr zum traditionellen Zweiparteiensystem. Liberale, Nationalisten und Schottische Unabhängige verschwinden vorerst wieder in der Bedeutungslosigkeit. Mit oppositionellen Labour-Partei ist wieder zu rechnen. Sie hatte mit Erfolg soziale Themen in den Vordergrund gestellt. Was folgt daraus? Der Wahlentscheid bedeutet die Abkehr von Mays hartem Brexit. Die Brüsseler Verhandlungen werden neben den britischen Zahlungsverpflichtungen Kompromisse im künftigen Umgang bei Personen, Waren und Dienstleistungen ergeben. Denn Zölle in die EU nach den Regeln der Welthandelsorganisation wären für britische Ausfuhren ein noch herberer Schlag als umgekehrt, da sich viermal so viele Güter auf den Kontinent bewegen als von dort auf die Insel, gemessen am jeweiligen Brutto-Inlandsprodukt. Ganz zu schweigen von den bürokratischen und zeitintensiven Zollabfertigungen. Das will niemand. Somit dürfte der gemeinsame Markt unter vernünftigen Ergebnissen bestehen bleiben und ein No-Deal ist nicht realistisch. Darauf hoffen auch die Finanzmärkte. Fortbewegen von London wird sich die europäische Bankenregulierung, der Handel mit EU-Derivaten ist untrennbar mit Firmensitzen innerhalb der Gemeinschaft verbunden. Frankfurt könnte hiervon profitieren. Großbritannien wird auch nicht mehr dem Straßburger Europa-Parlament angehören können. Die Premierministerin regiert auf Abruf. Bei den Konservativen werden die Messer gewetzt. Der favorisiert gehandelte Außenminister Boris Johnson wird der inzwischen auf Grund ihrer Unnahbarkeit, Arroganz und Realitätsverweigerung mißliebigen May die Drecksarbeit des Ausstiegspokers überlassen. Dessen Zeit drängt. Fast ein Jahr ist seit dem Brexit-Referendum vergangen. Dabei hat der ernüchternde Wahlkampf zwei Monate Zeit gekostet. Zum 29. März 2019 tritt des Brexit in Kraft. Längst zuvor müssen die Brüsseler Verhandlungen beendet sein, stehen doch innerhalb dieser weniger als zwei Jahre noch die Ratifizierungen durch EU- und alle 27 nationalen Parlamente an. Die EU-Delegation unter Michel Barnier wartet in Brüssel Anfang kommender Woche auf ihre britischen Kollegen und deren Verhandlungsmandat. Großbritannien ist jetzt so gespalten wie kaum ein europäisches Land. Der Brexit hat die Gegensätze zwischen Befürwortern und Gegnern, Jung und Alt, Nord und Süd, Arm und Reich, traditionalisten und Modernisiern nochmals verstärkt. Und doch gehört das Land dank gemeinsamer Werte und Erfahrungen zu Europa, nicht nur kulturell, sondern auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Das alles gedanklich zu verarbeiten, erfordert spätestens jetzt eine objektive Information aller Bürgerinnen und Bürger beiderseits des Ärmelkanals. Das "Rule Britannia", die Weltherrschaft der Briten, ist Vergangenheit. Unabhängig aller Veränderungen hütet Kater Larry als "Chief Mouser of the Cabinet Office" zuverlässig als beliebtes Fotoobjekt die Eingangstür zu Downing Street 10, wo auf Theresa May gewaltige, säkulare Herausforderungen zukommen.

Jochen Freihold, 14052 Berlin
 
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  • B. F.
    Denn sie wollen keine Grenzregion werden.

    Längstens hinreichend bekannt dürften die Verwerfungen zwischen dem UK und Europa sein. Nordirland hat dann eine Außengrenze und die Einheit zwischen Katholiken und den Protestanten dürfte endgültig zerbrechen.
    Die Verlagerungen im Börsensektor sind dann so gut wie in die Wege geleitet.

    Alles in allem ist der Brexit nicht nur ein Sturm im Ärmelkanal.
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