Als ein Ehemann, der seine an frontotemporale Demenz erkrankte Frau zu Hause acht Jahre gepflegt hat, möchte ich einigen der Aussagen in dem Artikel äußerst heftig widersprechen. Verunsichert bin ich, ob manche der Aussagen, die ich als falsch einstufe, von einer Verkürzung der Mitschriften der Interviews herrühren oder ob die Aussagen vereinfachend dargestellt wurden, damit Nicht-Betroffene „sie besser verstehen sollen“. Sollte letzteres der Fall gewesen sein, dann wird damit das Gegenteil erreicht.
So ist z.B. nicht die fehlende Hemmschwelle der Grund, dass jemand mit Pyjama nachts auf die Straße läuft, sondern weil die Person sich in der Regel nicht erinnern kann, wo die Kleider am Abend hingelegt wurden. Dass bei jemanden, der oder die im Pyjama nächtens unterwegs ist, ein schwerer Verkehrsunfall wahrscheinlicher ist, halte ich für absoluten Unsinn. Meist sind die Nachthemden und Schlafanzüge heller/farbiger als beispielsweise ein Parka und eine Jeans. Die Gefahr ist deshalb immens höher, weil die Personen wahrscheinlich nicht auf dem Gehweg, sondern eben auf der Straße unterwegs sind. Von der Gefahr einer Unterkühlung (die fast das ganze Jahr über besteht), die durch eine solche nicht angepasste Kleidung erfolgt, wurde nicht gesprochen. Und diese Gefahr ist real und macht eine schnelle Suche so wichtig, bzw. die Verhinderung, dass jemand das Haus verlässt.
Zu schreiben, dass eine an irgendeiner Form von Demenzerkrankung leidende Person zustimmen muss, wenn er oder sie eine technische Einrichtung zur möglichen und notwendigen Ortung tragen soll, ist soweit von der Realität entfernt wie die Milchstraße von der Erde. Wir Angehörige sind verpflichtet unsere Erkrankten zu schützen und in bestimmten Stadien von Demenzerkrankung ist – und das wünscht sich keiner von uns – die Selbstbestimmung nicht mehr möglich. Hier muss gehandelt und Fürsorge übernommen werden. Ich habe unsere Wohnung schon immer in der Nacht abgeschlossen. Früher der Kinder wegen, danach aus Gewohnheit und dann wieder aus der Notwendigkeit heraus meine Frau zu schützen. Wer seine erkrankten Angehörigen schon suchen musste, weiß welche Ängste man dabei durchsteht, jede Prävention ist hier gerechtfertigt, denn es geht weder um Einsperren noch um Überwachung, es geht um den Schutz derer, die wir lieben.
Natürlich ist es richtig und wichtig, dass die Erkrankten einen Hinweis auf Adresse, Angehörige und ihre Eingeschränktheit bei sich tragen. Aber wer nachts im Pyjama das Haus verlässt wird sich diesen Ausweis nicht vorher einstecken …
Ich würde mir wünschen, dass bei solchen Artikeln stärker bei denen nachgefragt wird, die die tägliche Belastung haben, denn auch Ärzte die sich durch ihr ganzes Berufsleben mit Demenzen und Menschen die an diesen erkranken beschäftigen und selbst noch keine solche im eigenen Lebensumfeld erleben und aushalten mussten, bleiben in der Theorie – was die Anstrengungen des Alltags in der Betreuung und Pflege bedeuten – verhaftet. Wir Angehörige stehen im Spannungsfeld der Fürsorge und Sorge. Wir stehen im Spannungsfeld von Liebe und auch Aggression, im Spannungsfeld zwischen Zweifel, Zorn und Zärtlichkeit.
Von Ihnen liebe Leser*innen wünsche ich mir für alle Pflegenden und an Demenz Erkrankten Verständnis für das Verhalten beider Personengruppen. Wir lieben unsere Angehörigen und wenn wir augenscheinlich unangemessen mit ihnen umgehen, dann ist dem faktisch nicht so. Und wenn unsere dementen Angehörigen sich enthemmt oder für Sie seltsam verhalten, dann halten Sie es bitte aus. Vorwürfe oder anklagende Bemerkungen treffen uns tief und können eventuell auch die Erkrankten erreichen und noch weiter verunsichern.
Am Ende möchte ich allen die Menschen, die Demenzkranke pflegen, Kraft wünschen und sagen, dass ich jede und jeden bewundere. Und hier schließe ich explizit die Pfleger*innen die dies in Pflegeinrichtungen leisten mit ein und sage Danke für das Tun.
Michael Röhm, 97291 Thüngersheim