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Warum für die Redaktion und den Leseranwalt alle Leser wie Mandanten sind
"Meiner Meinung nach sind Sie in letzter Zeit eher ein Anwalt der Zeitung. Im Regelfall verteidigen Sie die Redaktion gegen Kritik von Lesern. An sich ist das nicht verwerflich.
Von unserem Redaktionsmitglied Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 06.03.2011 14:52 Uhr
So versuche ich, nicht nur bei Zweiflern, Verständnis für die Aufgabe zu gewinnen, die ich 2004 übernommen habe. Die scheinbar juristische Logik eines anderen Lesers bietet mir Gelegenheit zum Einstieg. Er schreibt: „Man stelle sich mal vor, dass der eigene Anwalt vor Gericht plötzlich die Argumente der Gegenseite aufzählt und denen dann auch noch den Vorzug gibt. So was ist schlicht undenkbar.“

Auf diesen Vergleich kann man kommen. Freilich stehen wir nicht vor Gericht – das ist tunlichst zu vermeiden. Und Jurist bin ich auch nicht. Aber gute Anwälte, also Juristen, konfrontieren ihre Mandanten mit gewichtigen Gegenargumenten. Gute Beratung verhindert aussichtslose Rechtsstreite. Überraschungen sind dann unwahrscheinlich.

Nach meinem Verständnis sind für mich alle Leser gleichsam Mandanten. Ich will ihr Mann in der Redaktion sein. Das bleibe ich gerade dann, wenn ich Beschwerden einzelner Leser nicht beipflichte, etwa weil ich den Versuch einer einseitigen Einflussnahme darin sehe. Auf die Unabhängigkeit einer Redaktion sollte sich die gesamte Leserschaft verlassen können. Die taste ich als Leseranwalt nicht an, sonst würde ich wirklich für die „Gegenseite“ argumentieren.

Gemessen werden will ich aber an schlüssigen Erklärungen, bei denen ich mich stets bemühe, auf den jeweiligen Einzelfall einzugehen – das nicht nur in der Zeitung, sondern noch mehr in Schriftwechseln, am Telefon und online. Zustimmung bekomme ich weniger, wenn ich eine Kritik unterstützt habe, sondern eher für Erklärungen journalistischer Grundsätze. Die sind nämlich im Interesse der Menschen gemacht, somit gültiger Maßstab bei Beschwerden. Ihrem Sinn nach verpflichten sie die gesamte Redaktion, Anwalt ihrer Leser zu sein. Wann immer möglich, hat deshalb die Redaktion selbst oder nach Hinweisen von mir, Fehlleistungen richtiggestellt und sich entschuldigt.

„Leseranwalt“, als Begriff für meine Aufgabe, soll kein Deckmantel sein. Er soll Leser ermutigen, mir Konflikte vorzutragen, die mit der zuständigen Redaktion nicht auszuräumen sind. Dabei sollten Sie das Grundrecht der Medienfreiheit als wesentliches Stück Ihrer Freiheit empfinden. Dazu stehe ich. Fortsetzung folgt nächste Woche . . .
 
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Kommentare
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  • carolus
    ...sitzt auch ein Anwalt öfters, ist er doch meistens mehr Mediator und weniger Verteidiger. Bei anderen ist doch nix zu holen, wenn man nur einspurig/einseitig denkt und handelt.
    Zudem sitzt antonsah nicht nur zwischen zwei Stühlen - da sind die unterschiedlichsten Stühle der Redaktion (bestimmt nicht wenige), der der "Contra-Leser" (mannigfaltig und meist lautstark) und die "Pro-Leser", die sich aber häufig nicht so oft zu Wort melden.
    Wünschen wir doch dem Leseranwalt weiterhin die Kraft zur eigenen Meinung und genügend Rückgrat, diese in der Öffentlichkeit auch bei Gegenwind zu äußeren.
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  • so wie Sie es beschreiben, so setzen Sie sich "freiwillig" zwischen zwei Stühle. Dieses klingt für mich am unlogischsten, zumal einer dieser zwei Stühle ihr "Brötchengeber" ist. Da stellt sich wirklich die Frage, inwieweit die Neutralität und Unsubjektivität gewahrt ist.
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  • antonsah
    Ich stimme zu, obwohl der Kodex des Presserates und die Leitlinien unserer Redaktion bereits dicke moralische Knautschzonen sind, bevor gesetzliche Schranken erreicht werden. Schließlich kommt es, bei dem was Sie, evakurt, sich wünschen stets auf die Beurteilung des Einzelfalls an. Da stoßen Sie schnell auf das Problem, dass dazu ganz unterschiedliche Meinungen in Redaktion und Leserschaft auftreten, bzw. mehrere Herangehensweisen oder moralische Haltungen journalistisch vertretbar sind. Jeder vertritt die Seine überzeugend. Das gelingt auch Ihnen, evakurt, in Ihren Kommentierungen, die trotzdem gelegentlich ebenfalls auf Widerspruch anderer Leser treffen. Wir bewegen uns im Spielraum der Meinungs- und Pressefreiheit.
    Anton Sahlender, Leseranwalt
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  • so gesehen wird es meinerseits zu diesem Thema auch keinen Streit geben. - Mir reicht es schon, wenn die Redaktion ZUSÄTZLICH zum Pressekodex das "Gewissen" als EIGENE Instanz einschaltet. Mir ist sehr wohl bewusst, dass in einer Zeit, die die Objektivierung vorzieht, subjektive Instanzen wie "Gewissen" softig klingen - aber wer weiss, vielleicht kommt ja doch was an.
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  • zwischen Redaktion und Leser ist deshalb spannend, weil Sie damit naturgemäß im Schnittpunkt ZWEIER Systeme stehen, ABER gleichzeitig Teil der Redaktion sind.

    Das heißt konkret, dass Sie in Zweifelsfragen mit dem Inventar des redaktionellen Systems arbeiten bzw. arbeiten müssen.

    Beispiel 1:
    Ein Leser weist auf eine Schlagzeile (o.ä.) hin, die sich nach Überprüfung mit dem Pressekodex als grenzwertig oder gar damit im Widerspruch stehend erweist. In einem solchen Fall wirken Sie auf die Redaktion ein - ist ok und kam letztes Jahr ab und an vor. Das ist ein einvernehmliches Beispiel.

    Beispiel 2:
    Ein Thema wird in Übereinstimmung mit dem Pressekodex redaktionell verarbeitet, was aber bei Lesern aus grundsätzlichen Erwägungen auf Widerspruch stößt. Ich verweise auf verschiedene ausführliche Berichterstattungen im Jahr 2010, bei denen unter Namensnennung Mißbrauchsfälle thematisiert wurden, die sich am Ende als haltlos erwiesen. - In solchen Fällen stehen Sie auf der Seite der Redaktion, weil diese ja nach ihrem System sauber gearbeitet hat - unabhängig davon, ob sich sowas "gehört". Nachdem das, "was sich gehört", (im Gegensatz zum Pressekodex) juristisch nicht fassbar ist, läuft man da als Leser gegen eine Wand.

    Insofern mein Wunsch an den Leseranwalt: Wirken Sie auf die Redaktion noch mehr dahingehend ein, dass alles automatisch erlaubt ist, nur weil es nicht verboten ist, sondern dass es über Pressekodex-Vorgaben hinaus so etwas wie ein moralisches Bewußtsein gibt, das einem sagt, was man tut und was man nicht tut. Der Pressekodex sollte nicht als Ersatz für eigene Gewissensverantwortung verstanden werden.
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  • "dass nicht alles automatisch erlaubt ist, nur weil es nicht verboten ist"
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