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LESERANWALT
Großer Bericht auf dem Zeitungstitel lässt an Zurückhaltung zweifeln
Achtung! Gefahrenstelle. Das gilt auch für Journalisten       -  Achtung! Gefahrenstelle! Dieses Verkehrschild können sich auch Journalisten vor Augen halten, wenn sie über Unglücke oder Straftaten mit Todesfolge berichten. Das gilt ganz besonders im Falle einer Selbsttötung. Oft ist Zurückhaltung geboten.
| Achtung! Gefahrenstelle! Dieses Verkehrschild können sich auch Journalisten vor Augen halten, wenn sie über Unglücke oder Straftaten mit Todesfolge berichten. Das gilt ganz besonders im Falle einer Selbsttötung.
Anton Sahlender
Anton Sahlender
 |  aktualisiert: 27.04.2023 02:34 Uhr
Eine Zuschrift auf der Leserseite der Zeitung hat die Berichterstattung über eine Familien-Tragödie kritisiert. Das sei auf einer Titelseite (1.10.) Sensationsjournalismus. Als plumpen Versuch, den zu kaschieren, bewertet der Leser in seiner Zuschrift die dem aktuellen Bericht beigefügte redaktionelle Erklärung. Darin war beschrieben, dass die Entscheidung für die Veröffentlichung auf der Titelseite erst nach intensiver Diskussion gefallen ist (siehe Bild unten). Denn die Umstände des Fundes von drei Leichen unter einer Autobahnbrücke hatten große Aufmerksamkeit erregt. So erkannte die Redaktion ein Recht der Öffentlichkeit, alles Wesentliche darüber zu erfahren.
Die Erklärung der redaktionellen Entscheidung war auf mainpost.de nicht zu finden, aber die Berichterstattung über die Tragödie ist hier ebenfalls in den Online-Schlagzeilen erschienen.
 

Es geht um moralische Rechte

Der Leser bestreitet aber für den vorliegenden Fall dieses Recht der Öffentlichkeit auf eine Berichterstattung in dem Umfang wie sie in der Zeitung erschienen ist. Er fragt stattdessen nach den Rechten der Angehörigen.
Es geht in dieser Auseinandersetzung um moralische Rechte. Sie lassen sich aus dem Kodex des Deutschen Presserates herauslesen. Der setzt "Grenzen im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen". Betroffene von Straftaten oder Unglücksfällen sollen durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden".
Der Öffentlichkeit fühlen sich aber Journalisten auch verpflichtet. Deren wahrhaftige Unterrichtung fordert ebenfalls ihr Kodex.  Hier kommen Sie zum Kodex des Presserates.
  

Verantwortungsvoll abwägen

So gilt es in Redaktionen verantwortungsvoll abzuwägen, wenn es um Unglück und Tod geht: Die Vermeidung von Leid für Angehörige gegen die möglichst wahrhaftige, das heißt auch vollständige Berichterstattung. Wenn noch eine Selbsttötung vorliegt, wie wohl in diesem Fall zu vermuten war, wiegt zusätzlich die Notwendigkeit schwer, sich bei der Schilderung von Begleitumständen oder bei Fotos zurückzuhalten. Gilt die Gefahr von Nachahmungstaten doch als erwiesen.

 

Die transparente Entscheidung

Das alles hat schon die der Berichterstattung (am 1.10.) auf der Titelseite der Zeitung hinzugefügte Erklärung (siehe Abbildung) gesagt. Sie war aus meiner Sicht wichtig und keine plumpe Rechtfertigung. Sie stellt Transparenz her, macht Leser mit einem schwierigen Entscheidungsprozess vertraut und liefert Argumente für eine eigene Bewertung. Die Redaktion hat damit ihre Entscheidung öffentlich zur Diskussion gestellt. Leser können dabei durchaus zu einer anderen Einschätzung kommen. Das war in der Folge sogar bei einigen Redakteuren der Fall. Eine engagierte Nutzer-Diskussion konnte man dazu auch auf mainpost.de lesen. Dabei gab es auch viel Zustimmung für die Entscheidung der Redaktion und deren Erklärung dazu.



Spagat. Standpunkt Michael Reinhard vom 1.10.2016, Main-Post, Titelseiten       -  Dass die angemessene Berichterstattung über eine Familien-Tragödie einen 'schwierigen Spagat' dargestellt hat, erklärt Chefredakteur Michael Reinhard bei einer Veröffentlichung auf dem Zeitungstitel. Er macht eine redaktionelle Entscheidung damit anschaulich transparent. Das lädt die Leserschaft ein, die getroffene Entscheidung selbst zu bewerten.
| Dass die angemessene Berichterstattung über eine Familien-Tragödie einen "schwierigen Spagat" dargestellt hat, erklärt Chefredakteur Michael Reinhard bei einer Veröffentlichung auf dem Zeitungstitel.




 

Mehr Zurückhaltung

Dem kritischen Leser komme ich mit meiner Einschätzung entgegen. Zugegeben, sie war mit einigem Abstand und Kenntnis der Meinungsbeiträge leichter zu treffen: Mehr Zurückhaltung wäre bei der Familientragödie angemessener gewesen. Hinterbliebene wurden durch einige Informationen der Gefahr einer Identifizierung ausgesetzt. Und Stimmungen aus ihrem Wohnort waren unwesentlich. Sie lassen an der selbst erklärten "größtmöglichen inhaltlichen Zurückhaltung" zweifeln, ebenso wie die Platzierung auf dem Titel oder in den Schlagzeilen.


Nachtrag: Ich habe weitere Online-Verknüpfungen mit dem Ausgangsbericht vermieden. Ich möchte die Umstände der Familien-Tragödie nicht aufwühlen. Mir kommt es auf die grundsätzliche Erkärung an. 

Anton Sahlender, Leseranwalt
 
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