Wie jedes Jahr vermisse ich wieder ein paar Zeilen zum 5. Mai 1955 in der Zeitung“, schreibt mir ein Leser. Er fügt hinzu, „für mich ist das der wichtigste Tag in der Bundesrepublik Deutschland.“
Ratlos schlucke ich, nachdem ich diese Zeilen gelesen habe. Sie geben nämlich keine Aufklärung über dieses Datum. Ohweh, 5.5.55 – was war da los? Wissen Sie es auch nicht sofort? Vielleicht liegt es wirklich daran, dass es hier kein Gegenstand der Berichterstattung gewesen ist.
Geschichtskundige werden sofort erkannt haben, dass der Leser die sogenannten Pariser Verträge vermisst. Die haben das Besatzungsstatut von Westdeutschland beendet und dem Westteil Deutschlands wieder Souveränität verliehen – eine bis zur Wiedervereinigung 1990 etwas eingeschränkte. Das Besatzungsstatut selbst war am 10. April 1949 von den Alliierten verabschiedet und am 12. Mai 1949 von den Militärs verkündet worden. Mit diesem Folgedatum gewinnt zumindest mein Text heute an Aktualität.
Ich werde diese Zeilen allerdings nicht mit den Pariser Verträgen fortsetzen. Ich will Ihnen nicht die Freude nehmen, selbst mal nachzuschlagen oder im Internet zu suchen.
Ich versuche stattdessen die Frage zu beantworten, warum über den 5.5.55 nichts in der Zeitung stand, warum sich die Redaktion nicht dafür entschieden hat. Ich (58 Jahre) erinnere mich gerade noch, was die Kommunikationswissenschaft einst (bevor es Internet gab) vermittelt hat: Vom Geschehen auf der Welt wird nachrichtlich nicht einmal ein Prozent erfasst. Davon wiederum gelangt vielleicht ein Prozent in die Redaktionen der Medien. Erst daraus wählen Journalisten rund 10 Prozent aus.
Sie entscheiden sich für Inhalte, die sie für relevant und interessant halten, die sie vor allem als wichtig für die Nutzer ihres Mediums einschätzen. Im vorliegenden Fall hat der 53. Jahrestag der Pariser Verträge wohl auch in den Nachrichtendiensten gefehlt. Eine Erinnerung gibt es mutmaßlich wieder zum runden 60. oder schon zum 55., weil der 55. am 5.5.55 an sich originell ist.
Ich überlasse es jedem Leser, selbst darüber zu befinden, wie wichtig dieses Datum für uns heute ist. Sie sollten sich aber stets darüber im Klaren sein, dass noch viel mehr Jahrestage in der tagesaktuellen Berichterstattung keinen Platz finden. Nehmen Sie als Beispiel den 13. Mai 1965: Die Spiegel-Affäre endet. Der Bundesgerichtshof entscheidet, kein Hauptverfahren gegen Conrad Ahlers und Rudolf Augstein zu eröffnen. Queen Elizabeth II. besucht Deutschland und die Bundesrepublik Deutschland nimmt diplomatische Beziehungen zu Israel auf. – Wichtig oder nicht?