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„Wir sollten uns nicht von Rachegefühlen leiten lassen“
Das Gespräch führte Peter Rauscher
 |  aktualisiert: 07.07.2016 03:40 Uhr

Europa braucht mehr Demokratie, aber nicht unbedingt mehr Volksabstimmungen, sagt der frühere EU-Kommissar und ehemalige Kulmbacher SPD-Bundestagsabgeordnete Günter Verheugen (72). Ein Gespräch über den Brexit, ängstliche Völker und Wattzahlen bei Staubsaugern.

Frage: War die Volksabstimmung für den Ausstieg der Briten aus der EU ein Sieg der Demokratie über die Technokratie in Europa?

Günter Verheugen: So würde ich das nicht zuspitzen. Es handelte sich auf jeden Fall um eine demokratische Entscheidung (zögert). Aber Mehrheiten können sich auch irren. Es war wohl eher ein öffentlicher Aufschrei gegen gegenwärtige Zustände in Großbritannien und in der EU.

Und diese Mehrheit hat sich geirrt?

Verheugen: Ja. Ich glaube, dass diese Entscheidung aufgrund sehr starker Emotionen gefallen ist, nicht auf der Grundlage kühler Überlegung und Interessenabwägung. Möglicherweise ging es vielen, die für den Brexit gestimmt haben, vor allem darum, dem Establishment mal die Meinung zu sagen. Das ist Teil der Anti-Establishment-Welle, die zurzeit über die ganze Welt schwappt. In vielen Ländern Europas, in Amerika und auch bei uns. Referenden bergen immer das große Risiko, dass dabei ganz andere Rechnungen beglichen werden. Aber klar ist: Das Ergebnis eines Referendums muss akzeptiert werden, auch wenn es einem nicht gefällt.

In Großbritannien wird schon diskutiert, ob man den Brexit mit einem zweiten Referendum oder Neuwahlen rückgängig machen könnte, weil die Abstimmung rechtlich nicht bindend war. Geht das?

Verheugen: Die „Financial Times“ schreibt: Nichts ist undenkbar. Man muss bedenken: Die Abstimmung war nicht nur eine Absage an die EU. Großbritannien ist in eine tiefe politische Krise gestürzt worden. Die Einheit des Landes steht auf dem Spiel. Schottland und Nordirland wollen beim Brexit nicht mitmachen, die großen Parteien sind vollkommen zerstritten. Es sieht so aus, als würde London den Austritt des Landes aus der EU nicht so schnell förmlich beantragen.

Schließen Sie aus, dass der Brexit nochmal gekippt wird?

Verheugen: Ich weiß es einfach nicht. So eine Situation gab es noch nie.

Wie groß ist die Ansteckungsgefahr nach dem Brexit im übrigen Europa?

Verheugen: Ich halte die Gefahr für sehr groß. In einer ganzen Reihe von Ländern haben rechts- und linkspopulistische Bewegungen jetzt schon großen Einfluss und treiben die anderen Parteien vor sich her. Sie spüren gewaltigen Aufwind. Darum ist es jetzt auch so wichtig, wie die übrigen 27 Länder mit dem britischen Ergebnis umgehen.

Wir sollten nicht den Briten so schnell wie möglich den Stuhl vor die Tür setzen. Die Euphorie der Brexit-Befürworter verfliegt sehr schnell und wird einem Katzenjammer weichen, wenn offensichtlich wird, dass gemachte Versprechen nicht gehalten werden können und dass die Einheit des Landes gefährdet ist. Das könnte den Auftrieb der Populisten wieder stoppen.

Müssten die 27 verbliebenen EU-Länder jetzt nicht hart mit den Briten ins Gericht gehen, um mögliche Nachahmerländer abzuschrecken?

Verheugen: Wir sollten uns nicht von Rachegefühlen leiten lassen. Die Briten bleiben ein europäisches Volk, die Inseln verschwinden ja nicht. Die Bindungen bleiben ebenso wie die gemeinsamen Interessen bestehen. Beiderseitiges Interesse ist es, diese Bindungen nicht zu kappen, sondern so eng wie möglich zu halten. Ein Exempel zu statuieren wäre nicht die angemessene Reaktion auf ein demokratisches Votum.

Es geht nicht um Bestrafung, sondern darum, dass Großbritannien nun von bestimmten Vorteilen nicht mehr profitieren kann.

Verheugen: Das kommt von selbst. Die Brexit-Befürworter haben den Menschen weisgemacht, ihr Land könne auch nach einem Austritt aus der EU wie bisher vom gemeinsamen Markt profitieren. Aber wenn sie an diesem Markt teilnehmen wollen, müssen sie sich an Regeln halten, über die sie künftig nicht mehr mitentscheiden können. Die Brexit-Kampagne hatte versprochen: Wir holen unsere Souveränität zurück. Tatsächlich würde aber an diesem Punkt das Gegenteil passieren. Diese Fragen haben aber bei der Diskussion vor der Volksabstimmung offenbar keine Rolle gespielt. Anders ist es nicht zu erklären, dass die meistgegoogelten Fragen in Großbritannien jetzt sind: „Was sind die Folgen des Brexit“ und „Was ist eigentlich die Europäische Union“.

Europa zieht als Hort von Frieden, Wohlstand und Freiheit Millionen Flüchtlinge an. Warum ist es bei den eigenen Völkern so unbeliebt, dass immer wieder Volksabstimmungen danebengehen?

Verheugen: Tatsächlich geht es meistens schief, wenn es über eine europäische Frage zur Volksabstimmung kommt. Wir haben im Augenblick keine integrationsbereiten Mehrheiten. Und die Zeiten, in denen europäische Projekte in Parlamenten einfach durchgewunken wurden, sind vorbei. Um voranzukommen, müssen wir die Menschen überzeugen, dass das gut für sie und ihre Zukunft ist. Dieser Glaube fehlt zurzeit.

Woran liegt das?

Verheugen: Von den vielen Gründen dafür hebe ich zwei hervor. Erstens: Die tiefe Verunsicherung in den europäischen Gesellschaften infolge der Globalisierung und der Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008. Seitdem spürt man Zukunftsangst, auch wenn es vielen Menschen persönlich gut geht. Aber es gibt auch Verlierer, die wirtschaftliche Ungleichheit wächst, wir sind weit von der Vollbeschäftigung entfernt und die Jugendarbeitslosigkeit in einigen Ländern hat eine Generation ohne Zukunft zur Folge. Zweitens: Europäische Politik ist nicht nah genug am Bürger. Es hat sich ein technokratisches Politikmodell gebildet, das viele Menschen als anonym und bedrohlich empfinden. Dagegen kann man aber was tun. Und das betrifft sowohl die europäische als auch die nationale Ebene.

Reden wir gerade vom berühmten Staubsauger, dessen Wattzahl von Brüssel vorgeschrieben wird?

Verheugen: Das ist ein Beispiel für das Versagen der politischen Klasse bei der Erklärung europäischer Politik. Das große Politikziel Energieeinsparung und Klimaschutz wird von der Mehrheit der Menschen seit vielen Jahren vehement gefordert. Die Mitgliedstaaten und das Parlament haben das aufgegriffen und Listen der zu regelnden Produkte beschlossen. Denn zur Umsetzung braucht man den technischen Fortschritt, das ist dann eben in der Praxis kleinteilig: Dass sich die EU um Staubsauger, Kaffeemaschinen, Kühlschränke und Glühlampen kümmert, ist nichts Neues. Und das ist auch richtig. Energieeinsparungen gehen nur, wenn sich was ändert. Man könnte das gut erklären. Aber was passiert stattdessen? Politiker knicken bei Gegenwind sehr schnell ein und schieben alles auf die Brüsseler Bürokratie statt zu sagen: Jawohl, das haben wir so gewollt.

Fühlen Sie sich als ehemaliger EU-Kommissar mitverantwortlich für das miese Image der EU?

Verheugen: Ich habe wirklich versucht, etwas dagegen zu tun. Von mir stammt die Initiative zum Bürokratieabbau. Aber klar: Mitverantwortung trägt jeder, der eine europäische Führungsposition hatte oder hat.

Nach dem Brexit-Beschluss wird vielfach ein Neustart in der EU gefordert. Warum eigentlich erst jetzt?

Verheugen: Ich wundere mich auch, dass immer erst das Kind in den Brunnen fallen muss, bis der Reformbedarf erkannt wird. Reformen werden seit Jahren angemahnt, auch von mir.

Die SPD, Ihre Partei, wollte mal „mehr Demokratie wagen“. Ist das mit dieser EU, die jede Volksabstimmung fürchten muss, zu machen?

Verheugen: Selbstverständlich. Das ist sogar dringend nötig. Mehr Demokratie heißt nicht notwendig mehr direkte Demokratie. In unserem Grundgesetz sind Volksabstimmungen aus gutem Grund nur bei der Neugliederung von Ländern vorgesehen. Direkte Demokratie hat in ganz bestimmten Fällen ihre Berechtigung: Bei Problemen, die sehr dicht dran sind am Leben jedes einzelnen. Ob man große internationale Fragen durch Volksabstimmungen entscheiden sollte – da mache ich ein Fragezeichen.

In der EU könnte und sollte man mehr Demokratie verwirklichen. Man müsste ein voll parlamentarisches System einrichten, bei dem die EU-Kommission aus den Parlamentswahlen hervorgeht; ein EU-weites Wahlrecht und EU-weite Wahlvorschläge würden auch helfen.

Wäre Europa dann näher am Bürger?

Verheugen: Ich glaube schon. Ich wünsche mir von der deutschen Politik auch, dass sie klar für Europa einsteht und Europa nicht immer so herunterredet. Die europäische Einigung gibt es überhaupt nur wegen uns, den Deutschen. Die anderen hätten den Frieden in Europa nach dem Krieg vielleicht auch so hingekriegt. Aber wir brauchen Europa. Und wir sind diejenigen, die den größten politischen und wirtschaftlichen Vorteil davon haben. Aber wichtiger als der wirtschaftliche Vorteil ist, dass wir mit unseren Nachbarn in einem dauerhaften Frieden leben und wir nicht mehr zur Gefahr für uns selbst und andere werden. Das muss immer wieder aufs Neue gesagt werden.

Und wie kommt die EU nun aus dem ganzen Schlamassel heraus?

Verheugen: Ich glaube nicht, dass jetzt der große Sprung nach vorne zu einer wirklichen politischen Union möglich ist. Es fehlt der politische Wille der Regierungen und es fehlt die Bereitschaft der Menschen. Wir werden den mühseligen Weg der Reformen gehen müssen, viele einzelne Schritte, nicht ein einziger großer. Das wird gelingen, wenn sich in unseren Köpfen etwas ändert, wenn wir wieder begreifen, dass wir eine Völkerfamilie sind, die ihr Schicksal auf dem europäischen Kontinent gemeinsam gestalten muss.

 
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