Zivilcourage fordern Polizei, Schulen, Verbände. Die 23-jährige Tugçe zeigte sie, als sie zwei Mädchen in Offenbach half, die von Männern belästigt wurden, und bezahlte mit dem Leben. Jetzt wurde sie im hessischen Bad Soden-Salmünster beigesetzt. Vor fünf Jahren starb in München der Manager Dominik Brunner, als er in der U-Bahn Jugendlichen gegen Schläger half. Verletzungen trugen etliche Menschen in Unterfranken für ihre Zivilcourage davon. Ein Gespräch über Heldentum und Hilfsbereitschaft mit Stefan Lutz-Simon, dem Leiter der Jugendbildungsstätte des Bezirks Unterfranken. Der Pädagoge engagiert sich im Würzburger Bündnis für Zivilcourage.
Stefan Lutz-Simon: Was passiert ist, ist furchtbar tragisch. Kein Bundesverdienstkreuz macht das ungeschehen. Es kann bestenfalls ein Trost für die sein, die sie kannten, ein Zeichen, dass sie nicht umsonst gestorben ist. Sie hat sich für andere eingesetzt, ohne sich selbst schützen zu können.
Lutz-Simon: Natürlich. Jede andere Sicht würde verunglimpfen, was sie getan hat. Sie hat den Mut gezeigt, von dem ich mir wünsche, dass ihn viele beweisen. Aber die Situation zeigt auch, es ist unberechenbar, was passieren kann. Und deshalb geht es in diesem Fall vor allem darum, Solidarität von den Zeugen des Übergriffs einzufordern. Ich habe das Überwachungsvideo des Offenbacher Schnellrestaurants im Internet gesehen. Die Frage ist, wie hätte beispielsweise das Personal schon mit den ersten Pöbeleien der Angreifer umgehen können?
Lutz-Simon: Ratschläge, wie man sich bei Übergriffen verhalten kann, würde ich nach wie vor geben. Man kann Muster einüben, die helfen, mit einer solchen Situation umzugehen. Aber ich finde es unverantwortlich, das Thema der allgemein mangelnden Solidarität in der Gesellschaft, auf Jugendliche abzuwälzen. Auch wenn es schon immer so war, dass junge Leute in ihrer Lebensphase Konflikte eher mit Tatendrang und schneller körperlich lösen als Ältere.
Lutz-Simon: Nein.
Aber sie können ihnen raten, wachsam zu sein und auch das eigene Leben als schützenswert zu sehen.
Lutz-Simon: Das stimmt sicher auch. Ich nehme das Wort Zivilcourage gar nicht mehr gerne in den Mund. Viel besser finde ich in dem Zusammenhang Begriffe wie Demokratie und Toleranz. Es geht vor allem um Solidarität und die Veränderung von Grundstrukturen in der Gesellschaft. Es geht um den Mut, sich als Bürger demokratisch, solidarisch und menschlich zu verhalten. Das fängt schon dort an, wo ich blöde Sprüche etwa in der Straßenbahn oder in meinem Sportverein oder in meiner Schulklasse nicht einfach stehen lasse.
Lutz-Simon: Ich meine, die Hauptaufgabe des Staates und speziell der Polizei ist es, die Bürger eines Landes zu schützen – dieser Schutz muss allen gelten, die mit mir in diesem Land leben, ganz gleich übrigens, wie lange schon und mit welchem Pass. Wenn mehr Polizeipräsenz dazu beiträgt, würde ich das also auch so sehen. Was gar nicht geht, ist Selbstjustiz, dass also irgendjemand auf die Idee mit einer Bürgerwehr kommt. Dennoch: Es gibt für niemanden vollkommene Sicherheit. Der Polizeistaat kann nicht die Alternative sein. Die Sicherheit aller ist jedoch umso größer, je solidarischer eine Gesellschaft ist.
Lutz-Simon: Ja, und ich bin voller Hoffnung, dass sich da gerade etwas entwickelt. Die Diskussion um die Lage von Flüchtlingen beispielsweise hat einen Prozess angestoßen. Und jetzt kann gerade der Fall Tugçe bewusst machen: Bundesverdienstkreuze reichen nicht als einzige Antwort. Sie dürfen und können nicht ersetzen, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft zum solidarischen Handeln aufgefordert sind.
Lutz-Simon: Das ist die Frage. Leichter fällt es vielen, in Einzelfällen Flüchtlingen in prekären Situationen zu helfen, als Zuwanderer insgesamt zu akzeptieren. Interessant ist in dem Zusammenhang, das sich die Organisation Pro Asyl bisher stark auf Einzelfälle konzentrierte und jetzt Rassismus in der Gesellschaft allgemein zum Thema macht. Auch sie sieht die Entsolidarisierung in der Gesellschaft als ein großes Problem.
Lutz-Simon: Auf jeden Fall unterstütze ich Willi Brandt, wenn er schrieb: „Wir sind nicht zu Helden geboren.“ Wichtig sind Mut und Selbstsicherheit, nur die kann man üben, und nicht, wie man sich in einer Situation als Held erweist. Mut fängt nicht erst mit dem Bundesverdienstkreuz an – aber er darf auch nicht damit aufhören. Aber das schmälert nicht die Leistung von Menschen wie Tugçe. Es würde sie ehren. Foto: M. Czygan
Zivilcourage
Das Wort Zivilcourage lässt sich übersetzen als „staatsbürgerlicher Mut“. Etwa zur Zeit der Aufklärung ging es dabei besonders um den Einsatz für das Staatswesen, heute verstehen wir darunter landläufig das Engagement gegen Aggression und Diskriminierung. Ratschläge dazu, wie man helfen kann, ohne den Helden zu spielen, geben Polizei (im Internet unter www.polizei-beratung.de) und unter anderem das Jugendportal der bayerischen Staatsregierung (www.jupo-bayern.de). Die wesentlichen Tipps: Helfen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen, etwa indem man andere direkt zur Mithilfe auffordert, Hilfe unter dem Notruf 110 organisiert, sich die Merkmale des Täters einprägt, sich um das Opfer kümmert und schließlich der Polizei als Zeuge zur Verfügung steht. Differenzierte Ratschläge zum Umgang mit Tätern und mit der eigenen Angst gibt auch das Würzburger Bündnis für Zivilcourage (www.zivilcourage-wuerzburg.de). Text: BEA