In Deutschland hat es Tradition, über den Pflegenotstand zu klagen. Bereits Ende der 60er Jahre hieß es: „Pflegekräfte fehlen“ und „die Pflege ist inhuman“. Mehr Pflegekräfte, mehr Geld, mehr Kontrolle und bessere Organisation wurden gefordert.
In der Tat ist viel passiert. Die Pflegesituation ist heute für Pflegebedürftige und auch für Pflegende besser denn je: Seniorenheime mit Bewohner*innen statt Verwahranstalten mit Insassen. Ein- oder Zweibettzimmer mit Nasszellen statt Vier- bis Sechsbettzimmer mit einer Toilette auf der Etage. Multifunktionale Pflegebetten statt Einheitsbetten mit harten Matratzen. Wirksame Medikamente gegen Schmerzen, Psychopharmaka und Opiate. Die Soziale Pflegeversicherung als eigenständiger Zweig der Sozialversicherung. Entsprechende Bestimmungen für privat Krankenversicherte. Im BGB und in den Sozialgesetzbüchern sind Rechtsansprüche und Pflichten zur Pflege geregelt. Ausbildung der Pflegekräfte an Gesundheits- und Krankenpflegeschulen sowie Altenpflegeschulen (Berufsfachschulen), seit 20 Jahren auch an Hochschulen.
Es gibt viele Gründe für den Pflegenotstand
Trotzdem wird heute heftiger denn je geklagt: „Die Pflege ist skandalös. Mehr als 50 000 Pflegekräfte fehlen.“ Noch so gute Bedingungen lösen offensichtlich das Pflegeproblem nicht. Zudem kündigen vermehrt Pflegekräfte, und zu wenig junge Menschen entscheiden sich für den Pflegeberuf. Wie kommt es dazu?
Es gibt viele Gründe für den Pflegenotstand. Doch der Kern des Problems ist eine doppelte Not, nämlich selbst pflegebedürftig zu sein oder zu werden und Pflegebedürftige pflegen zu müssen. Die damit verbundene Not lässt sich nicht wegorganisieren. Wir wünschen uns Gesundheit und tun fast alles dafür, nicht gebrechlich und pflegebedürftig zu werden. Und wenn wir es sind, wehren wir uns dagegen. Der Gedanke, in einem Pflegeheim betreut werden zu müssen, macht 80 Prozent der Deutschen Angst. Nur sechs Prozent würden sich im Falle einer Pflegebedürftigkeit freiwillig für einen stationären Aufenthalt in einem Pflegeheim entscheiden (pwc-Studie 2017). Ins Pflegeheim geht man nur, wenn es keine andere Wahl mehr gibt.
Die Maßnahmen zur Verbesserung der Situation in Pflegeheimen zielen in erster Linie auf eine Entlastung der Mitarbeiterinnen durch einen verbesserten Betreuungsschlüssel und eine höhere Anerkennung durch eine bessere Bezahlung ab. Die Angst vor dem Altenheim und davor, pflegebedürftigen Alten nahe zu sein, trägt aber entscheidend dazu bei, dass sich zu wenige Menschen in Deutschland in der Altenpflege engagieren. Also lässt man pflegen. Je reicher jemand ist, desto weniger ist er selbst bereit zu pflegen. Das gilt für Einzelne und reiche Länder. Und kosten soll die Altenpflege auch nichts. Nur 43 Prozent der Deutschen wären bereit, für eine verbesserte Situation in den Pflegeheimen einen höheren Beitragssatz zu zahlen. Weil das so ist, werden möglichst billige Pflegekräfte aus ärmeren Ländern angeworben.
zermürbende Konfrontation mit dem Leid
Erwartet wird, dass die Pflegenden menschenwürdig sowie fachlich korrekt pflegen, einfühlsam sind und persönlich am Schicksal der Pflegebedürftigen Anteil nehmen. Dazu sind viele Pflegende auch bereit. Dagegen gibt die Gesellschaft, vertreten durch Kostenträger und Politiker, ihnen genau vor, wie viele Minuten sie bei einem Pflegebedürftigen bleiben dürfen. Der gute Wille und die Ideale der Pflegenden stehen der zermürbenden täglichen Konfrontation mit menschlichem Leid, der Todesnähe und den ausufernden Ansprüchen der Verwaltung und Dokumentation gegenüber. Utopische Erwartungen und Anforderungen sind oft der Maßstab für die Bewertung der Pflege und Anlass für Konflikte. Ausgeblendet wird, dass Pflegende Not, Gebrechen und Leiden nicht beseitigen können. Sie bleiben trotz guter Pflege. Der Zorn darüber wird oft an den Pflegenden ausagiert. Viele werden beschimpft, sogar geschlagen. So entsteht leicht eine Spirale aus gutem Willen, Überlastung, Wut, Erschöpfung, Resignation, beruflicher Verpflichtung, Schuldgefühlen, Erkrankungen usw. Erschöpfte Pflegekräfte resignieren und kündigen immer häufiger. Und dann verlangt ein Gesundheitsminister, dass sie mehr Überstunden machen sollen! Wie absurd. Wen kann das ermutigen, im Beruf zu bleiben oder den Beruf zu ergreifen?
Mehr Geld alleine reicht nicht
Die Bundesregierung, Politiker und auch die Initiatoren des Volksbegehrens für bessere Pflege in Bayern reduzieren das Problem jedoch letztlich auf ein Geldproblem – mehr Stellen, mehr Geld, bessere Ausbildung und folglich höhere Beiträge zur Pflegeversicherung. Fehlendes Geld ist aber nur ein Grund für den Notstand und kann nicht als Lösung schlechthin gelten. Denn Geld pflegt nicht und auch Pflegeversicherungen pflegen nicht. Menschen pflegen.
Was ist zu tun? Wir müssen anerkennen, dass die doppelte Not das Kernproblem des Pflegenotstands ist. Wir müssen einsehen, dass mehr Geld und bessere Organisationen nicht von der Pflegenot befreien können, obgleich sie notwendig sind. Wir müssen unsere Haltung gegenüber sabbernden und desorientierten Alten ändern, sie respektieren und uns mitverantwortlich für ihre menschenwürdige Pflege einsetzen. Schließlich bitten Pflegebedürftige diejenigen um Pflege, die noch pflegebedürftig werden.
Ernst Engelke (78) ist Autor zahlreicher Fachpublikationen zur sozialen Arbeit. Zuletzt erschien sein Buch „Die Wahrheit über das Sterben“. Engelke war von 1980 bis 2007 Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule in Würzburg. Er engagiert sich seit 2001 in der Palliativakademie und auf den Palliativstationen des Juliusspitals Würzburg.
manches Wort könnte man sich auch sparen ! Danke