Kretschmann ist seit dem 12. Mai 2011 Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Der 68-Jährige, seit 12. Mai 2011 Landeschef, führte zunächst eine Koalition mit der SPD. Seit der Landtagswahl 2016 regiert der ehemalige Gymnasiallehrer für Biologie und Chemie gemeinsam mit der CDU. Ein Gespräch über Donald Trump, Rechtspopulisten und übertriebene politische Korrektheit.
Frage: Herr Kretschmann, wachen Sie zurzeit morgens auch mit bangem Blick auf Nachrichten aus Amerika auf?
Winfried Kretschmann: Ja. Die Gedanken sind gleich da: Was kommt jetzt heute? Es ist wirklich beunruhigend.
Wir erleben eine scheinbare Verschiebung von Wahrheit und Lüge. Was heißt das für die Politik?
Kretschmann: Wir werden wieder auf Elementares zurückgeworfen: Wie spricht man in der Politik? Was sind Voraussetzungen von Politik? Das ist aus meiner Sicht die Wahrhaftigkeit, nicht zu verwechseln mit Wahrheit. Über naturwissenschaftliche Fakten, etwa dass die Erde keine Scheibe ist, wird niemand ernsthaft diskutieren. In der Politik geht es aber um das Streben nach Wahrhaftigkeit. Wir merken gerade wieder, wie wichtig es ist, Tatsachen wahrzunehmen und zu akzeptieren, auch wenn sie einem nicht gefallen. Das ist die Grundlage politischer Verständigung.
Trotzdem sind gefühlte Wahrheiten auf dem Vormarsch…
Kretschmann: Auf Gefühle können wir uns aber in der Politik nicht einigen, obwohl für uns Menschen nur von Bedeutung ist, was mit Gefühlen verbunden ist. Das ist etwas paradox. Denn in der Politik können wir uns nur über Vernunftsgründe verständigen, nicht über Glaubensfragen oder Empfindungen. Wer die Faktenebene boykottiert, verletzt die Spielregeln der Demokratie.
Erleben wir dabei auch eine Verrohung der Sprache in der Politik?
Kretschmann: In der Tat erleben wir eine Verrohung. In Demokratien, wo es immer um Verständigung, um Kompromissfindung gehen muss, bemüßigt man sich einer respektvollen Sprache, auch wenn man hart in der Sache ist. Respekt vor der Meinung und der Person des anderen, Respekt vor Institutionen – das ist überaus wichtig. Radikalisierung bis hin zum Fanatismus, der sich in der Sprache bemerkbar macht, ist nicht der Boden, auf dem Demokratie gedeiht. Sie beschädigt die Demokratie. Donald Trump soll den Begriff „Demokratie“ in seinen Reden noch nie erwähnt haben. Das ist höchst bemerkenswert, denn ein Demokrat zu sein, Gesetze und Verfassung hochzuhalten, gehört quasi zur amerikanischen DNA.
Insofern ist Trump ein Revolutionär: Er deutet Dinge einfach um – Stichwort „alternative Fakten“. Da ist nichts Konservatives an diesem Menschen. Zwischen konservativ und rechtspopulistisch gibt es einen Riesenunterschied. Vor extrem Konservativen habe ich, auch wenn ich deren Meinung nicht immer teile, Respekt. Vor Rechtspopulisten nicht.
Woran machen Sie die Unterscheidung zwischen Rechtspopulisten und Rechtskonservativen fest?
Kretschmann: Ein erkennbarer Unterschied ist Humor, denn Humor kann harte Worte weicher machen. Bei den Rechtspopulisten, auch bei Trump, Erdogan, Marine Le Pen oder Frauke Petry, kann man durch die Bank feststellen: völlige Humorlosigkeit! Nur wer selbstironisch sein oder etwas infrage stellen kann, weiß, dass man eben nicht die Wahrheit gepachtet hat. Politische Witzchen gedeihen nicht von ungefähr, vor allem in Diktaturen und autoritären Systemen, weil dieser Witz gefährlich ist.
Erleben wir mit dem Erfolg der Rechtspopulisten einen Kampf um die Deutungshoheit des Begriffs „Heimat“?
Kretschmann: Begriffe wie Heimat sind sehr diffuse Begriffe, denen man leicht neue Deutung verleihen kann. Nur wenn man sich beheimatet fühlt, kann man sich sicher fühlen. Ich fühle mich beheimatet in Baden-Württemberg, aber auch egal wo, wenn ich Mozart höre oder in eine Messe gehe. Der Kontext der Rechtspopulisten ist aber der Nationalismus. Wenn sie Heimat sagen, zielt das auf Abgrenzung gegenüber anderen, das ist etwas grundsätzlich anderes. Österreich hat gezeigt: Man kann etwas tun. Dort nahm Alexander Van der Bellen den Heimatbegriff auf, den die Rechtspopulisten besetzt hatten, und füllte ihn anders. Das war ein starkes Signal.
Der AfD-Politiker Björn Höcke entfachte einen Empörungssturm mit seiner Rede über das Holocaust-Denkmal. Was bewirkt Höcke, wenn er immer wieder Formulierungen wie „reine Vaterlandsliebe“ verwendet?
Kretschmann: Björn Höcke ist einfach ein Rechtsradikaler und ein Nationalist. Das merkt man sofort. Seine Sprache erinnert an die Nazis. Der Versuch zu provozieren, gehört zur Strategie. Es ist eine Propagandasprache, die manipulieren will, die Sprache einer schlimmen Vergangenheit.
Wirkt die Sprache so stark, weil sie sorgsam erarbeitete Tabus schleift?
Kretschmann: Ja, die modernen Demokratien haben so etwas entwickelt wie politisch korrekte Sprache. Wir reden nicht mehr von Krüppeln, sondern von Behinderten. Das ist ein enormer Fortschritt, weil wir damit den Respekt vor diesen Menschen ausdrücken und ihre Würde beachten. Das Hauptansinnen der Rechtspopulisten ist es, dagegen zu kämpfen. Sie benutzen eine Sprache, die das Gleiche meint und doch etwas ganz anderes ausdrückt.
Viele scheinen der politischen Korrektheit aber überdrüssig zu sein.
Kretschmann: Es ist wie bei allem im Leben: Man darf nichts übertreiben. Das haben wir aber teilweise getan. Um die Bezeichnung „Menschen mit Handicap“ zu verstehen, muss man schon mal wissen, was ein Handicap ist. Manche sagen sogar: „Wir sind alle behindert!“ Das ist Unsinn. Ich kann beispielsweise nicht so gut Englisch, das ist in meinem Amt ein Handicap, also ein Nachteil. Aber deswegen bin ich nicht behindert. In der Sphäre der Politik, wo es um Zusammenhalt geht, braucht man eine Sprache, die das Miteinander fördert und nicht sprengt. Politikerreden sind oft langweilig und voll von Plastikwörtern und gestanzten Phrasen: Auch das ist vermeidbar, aber das ist allemal besser, als extremistisch einzupeitschen.
Sprache darf nicht verletzen. Respekt und Klarheit, das ist der mittlere Weg.
Reden Politiker dabei nicht oft an den Menschen vorbei?
Kretschmann: Wir müssen schon schauen, dass die Menschen uns auch verstehen. Warum reden wir von „Austeritäts-“ statt von Sparpolitik? Mein Deutschlehrer hat noch an den Rand geschrieben „vF“ – für vermeidbares Fremdwort. Auch ein gutes Beispiel ist „Gender-Mainstreaming“. Wer bitte versteht das? Der Philosoph Karl Jaspers hat definiert: „Mann und Frau sind zuerst Menschen und dann erst Geschlecht.“ Das ist sehr klar. Damit verwende ich eine Sprache, auf die Rechtspopulisten nicht springen können mit „Gender-Wahn“. Wir sollten uns als Deutsche auch mal überlegen, ob wir die Bevölkerung mit immer neuen Anglizismen, also englischen Fremdwörtern, belästigen müssen.
Unwort des Jahres 2016 war „Volksverräter“. Was sagt das aus?
Kretschmann: Es ist der Versuch der Rechtsradikalen, die sich insbesondere bei der AfD tummeln, sich von den dunklen Kapiteln der deutschen Geschichte zu verabschieden. Dazu passt die Höcke-Rede, dazu passt der Antrag der AfD-Landtagsfraktion in Baden-Württemberg, statt Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus nur noch „allgemeine Orte der Geschichte“ zu bezuschussen. Dahinter steckt Politik. Von „Volksverrätern“ zu sprechen, zeugt von Ignoranz gegenüber dem Zivilisationsbruch der Nazis. An solch einem Fanatismus merkt man: Es gibt kein Ende der Geschichte. Wir müssen immer um diese zivilisatorischen Errungenschaften kämpfen. Schon US-Präsident Lincoln hat gesagt, wir Demokraten sollten uns immer an die gute Seite im Menschen wenden. Rechtspopulisten dagegen wenden sich an die schlechte Seite im Menschen, die in uns allen ist. Da geht es wirklich um Sprache: Welche Seite sprechen wir an?