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„Wir können auch Menschen zwischen 50 und 60 weiterqualifizieren“
Das Gespräch führte Thomas Domjahn
 |  aktualisiert: 24.05.2019 02:11 Uhr

Die Digitalisierung wird die Wirtschaft verändern, sagt Reiner Hoffmann. Der 63-Jährige ist Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Hoffmann, Sohn eines Maurers und einer Putzfrau, studierte Wirtschaftswissenschaften. Seit 1972 ist er SPD-Mitglied. Er sitzt in den Aufsichtsräten mehrerer Unternehmen, unter anderem bei der Bayer AG. Der DGB-Chef glaubt, dass sich der Wandel nur stemmen lässt, wenn die Unternehmen mehr Geld in Weiterbildung investieren

Frage: Herr Hoffmann, die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Reallöhne steigen, der Mindestlohn ist eingeführt und die Arbeitsplätze werden ergonomischer. Geht es den Arbeitnehmern so gut wie noch nie?

Reiner Hoffmann: Ja, das kann man so sagen. Aber trotz der robusten Arbeitsmarktlage und den größtenteils guten Arbeitsbedingungen haben wir zwei Baustellen auf dem Arbeitsmarkt. Zum einen haben wir einen viel zu großen Niedriglohnsektor. Nahezu acht Millionen Menschen verdienen in Deutschland weniger als 10,80 Euro pro Stunde. Zum anderen gibt es immer weniger tarifgebundene Unternehmen. Heute sind nur noch 27 Prozent aller Betriebe tarifgebunden, nur 55 Prozent der Beschäftigten fallen unter den Schutz von Tarifverträgen. Der Arbeitsmarkt ist nach wie vor stark segmentiert. Wer in der Industriebranche arbeitet, in der die Tarifbindung ja immer noch hoch ist, hat deutlich bessere Arbeitsbedingungen. In der Dienstleistungsbranche hingegen lassen die Arbeitsbedingungen oft zu wünschen übrig.

Wie erklären Sie sich die niedrigen Löhne in der Dienstleistungsbranche?

Hoffmann: Die Strukturen im Dienstleistungssektor sind meist sehr kleinteilig. Der Organisationsgrad und die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer sind leider entsprechend gering. Ohne tarifliche Bindung und Betriebsräte entstehen oft prekäre Beschäftigungsverhältnisse.

Ist der Fachkräftemangel, über den viele Unternehmen klagen, für Arbeitnehmer ein Glücksfall?

Hoffmann: Ja. Die Unternehmen müssen aus Eigeninteresse höhere Löhne zahlen und gute Arbeitsbedingungen bieten. Davon profitieren die Arbeitnehmer.

Welche Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt erwarten Sie durch die Digitalisierung?

Hoffmann: Die Digitalisierung macht vor keiner Branche halt und durchzieht auch unser Privatleben. Damit die Menschen in der Lage sind, mit diesem Wandel Schritt zu halten, müssen sie die nötige Weiterbildung erhalten.

Kritiker befürchten eine Zweiteilung der Gesellschaft in hoch qualifizierte Digitalisierungsgewinner und niedrig qualifizierte Digitalisierungsverlierer.

Hoffmann: Ja, das ist ein großes Risiko. Der digitale Wandel wird uns nur gelingen, wenn wir mehr in betriebliche Weiterbildung investieren. Zum Glück machen immer mehr Unternehmen einen Sinneswandel durch und verstehen, dass Weiterbildung nicht nur ein Kostenfaktor ist, sondern eine Investition in die Zukunft.

Wer ist in erster Linie für die Weiterbildung verantwortlich: Staat, Unternehmen oder Arbeitnehmer?

Hoffmann: Vor allem sehe ich da die Arbeitgeber in der Pflicht. Sie müssen ein Interesse an gut qualifizierten Mitarbeitern haben. Lebensbegleitendes Lernen darf kein Schlagwort bleiben, es muss Eingang finden in die betriebliche Realität.

Kann man denn wirklich jeden weiterqualifizieren? Aus einem 50-jährigen Handwerker oder Busfahrer kann man schließlich keinen IT-Experten machen.

Hoffmann: Das halte ich für eine Schimäre. Wir können auch Menschen zwischen 50 und 60 weiterqualifizieren. Wir müssen eine Kulturrevolution starten. Bildung muss wieder Spaß machen.

Wäre es nicht realistischer, ein bedingungsloses Grundeinkommen für die Digitalisierungsverlierer einzuführen?

Hoffmann: Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist Unfug. Das ist schlicht und einfach eine Abstellprämie, die ich ablehne.

Welche Eigenschaften wird künftig jeder Arbeitnehmer in der digitalen Welt brauchen?

Hoffmann: Repetitive und monotone Tätigkeiten werden von Robotern und Algorithmen übernommen. Also brauchen Arbeitnehmer künftig eine höhere Problemlösungskompetenz. Das hat auch seinen Reiz, denn die Arbeitswelt kann interessanter und abwechslungsreicher werden.

Aber die Digitalisierung hat auch Schattenseiten, zum Beispiel den Zwang zur ständigen Erreichbarkeit in vielen Unternehmen.

Hoffmann: Wie viele Studien belegen, führt die Entgrenzung von Arbeitszeit zu psychischen Erkrankungen. Da brauchen wir dringend Regelungen für Ruhezeiten und ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit.

Werden solche weichen Themen wie Homeoffice, Sabbaticals oder flexible Arbeitszeiten in Zukunft gegenüber dem Gehalt an Gewicht gewinnen?

Hoffmann: Ja, dieser Trend verstärkt sich schon seit Jahren. Vor allem die sogenannte Generation Y, die gerade den Arbeitsmarkt betreten hat, legt im Berufsleben mehr Wert auf immaterielle als auf materielle Werte. Aber auch viele Ältere wünschen sich eine ausgewogene Balance zwischen Privat- und Berufsleben. Vor die Wahl zwischen mehr Freizeit oder mehr Geld gestellt, entscheiden sich immer mehr Beschäftigte für mehr Freizeit.

 
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