Jeden Tag bekommen wir eine Flut an Informationen deutscher Korrespondenten, die uns Sotschi näher bringen – durch die schwarz-rot-goldene Brille. Auch im Internet wird sehr viel diskutiert, bewertet und kritisiert. Aber wie sehen die Russen ihre Heimspiele eigentlich selbst?
Die letzten vier Jahre hat Elena Karapets aus dem sibirischen Irkutsk auf diesen Moment gewartet. Einmal bei den Olympischen Winterspielen im eigenen Land dabei zu sein – diese Möglichkeit wollte sie sich nicht entgehen lassen. Zwei Stunden vor Beginn des Kartenverkaufs kauerte sie vor ihrem Rechner und wartete sehnsüchtig darauf, dass die Seite aktiviert wird. Auf keinen Fall durfte sie ihre Tickets verpassen! Auch bei den Fahrkarten nach Sotschi war sie sehr früh dran. Als sie vor eineinhalb Wochen dann endlich in der Olympiastadt ankam, kannte ihre Euphorie keine Grenzen. Leider währte das nicht sehr lange.
Am Anfang waren es nur lange Schlangen, die ihre Begeisterung dämpften: vor den Bussen, vor den Seilbahnen, vor den Stadien. Später wurde ihr klar, dass die Stadt noch nicht bereit dazu war, Gäste zu empfangen: „Dass manche Wege plötzlich in Matsche enden, weil es anscheinend nicht genug Pflastersteine gab, ist hier nichts Außergewöhnliches. Immerhin wird der Matsch liebevoll mit Teppichen zugedeckt“, erzählt sie. Das sei nicht das Einzige, das nicht zu Ende gebaut worden ist. So könne sie erst seit ein paar Tagen sicher davon ausgehen, dass sie sich jederzeit und überall hinsetzen kann, denn erst jetzt stünden die letzten Bänke auf dem Gelände. Dazu treffe man an vielen Ecken Maler, die die Olympiastadt fertigstreichen.
Neben Wegen, die ins Nichts führen und unfertigen Ecken brächten einen auch die Auskünfte von Olympia-Mitarbeitern nicht immer ans Ziel. Als Russland im Eishockey gegen die USA spielte, wollte sie wissen, wo das Spiel übertragen wird. „Dass die Information, die ich bekommen habe, falsch war, habe ich erst nach dem Beginn des Matches erfahren. Der Weg zur richtigen Leinwand dauerte 20 Minuten. Das fand ich schon nervig“, ärgert sich die 45-Jährige. Wenn man sich dann beschwere, könne schon eine Antwort kommen wie: „So ist unser Russland. Wenn euch etwas nicht gefällt, braucht ihr nicht zu kommen.“ „Dass das auch mein Russland ist, scheint hier keinen zu interessieren“, sagt Karapets.
Da die Spiele selbst nicht direkt in der Stadt am Meer stattfinden, sondern in den Bergen, brauche sie jeden Tag bis zu acht Stunden für das Hin- und Herfahren – und das für nur 42 Kilometer. Obwohl die Straßen neu gebaut seien und nicht viel Verkehr herrsche, brauche der Bus für die Strecke geschlagene 54 Minuten. „Die Busfahrer schimpfen oft selbst, aber können die Regel, dass sie keine Minute länger oder kürzer brauchen dürfen, nicht ändern.“
Zeit koste auch die Sicherheit. „Wenn alle in den Bus eingestiegen sind, wird der erst mal mit Klebestreifen versiegelt. Wieder „ausgepackt“ werden wir, wenn wir am Ziel sind. Kleine Pausen zwischendurch sind nicht drin, der Bus darf nicht anhalten.“ Durch diese Regelungen sollen Terroranschläge verhindert werden.
Karapets ist trotz der großen Geduld, die man bei jeder Kontrolle aufbringen muss, zufrieden mit dem, was für die Sicherheit getan wird. Neben den Fahrzeugkontrollen sorgten nämlich auch die unzähligen Personenkontrollpunkte dafür, „dass man sich sicher fühlt“. Dadurch komme man sich allerdings oft vor wie am Flughafen. Denn überall dort, wo besonders viele Menschen aufeinandertreffen – sei es vor dem Olympischen Park, vor Spielstätten oder einfach an Bussen und Bahnen – werde man von oben bis unten durchgecheckt: „Als ich noch jung war, habe ich mich nicht so oft ausgezogen, wie hier in den letzten Tagen“, witzelt die Russin.
Anstrengend findet sie auch, dass man weder eigenes Essen noch eigene Getränke mitnehmen darf. „Man ist darauf angewiesen, sich dort etwas zu kaufen. Die Preise laden dazu aber nicht ein. Für eine 0,33-Liter-Flasche Cola muss ich dort 80 Rubel (circa 1,60 Euro) zahlen. Unten in der Stadt kostet sie nur 15 Rubel (circa 30 Cent).“ Auch beim Essen ist Karapets nicht ganz zufrieden. Wer bei Olympia nationale russische Küche kosten will, sei in Sotschi falsch. „Sushi oder Burger findet man an jedem Stand. Was Russisches habe ich bis jetzt leider nicht gesehen.“
Um der Welt mit dem Stereotyp, dass in Russland viel Alkohol getrunken wird, keine Angriffsfläche zu geben, werde es in Stadien kein Alkohol geben. Das haben russische Staatsmedien schon lange vor den Spielen angekündigt. Nur: „Für Russen gibt es keine Regeln. Manche Läden bieten für 250 Rubel (circa fünf Euro) ganz bescheiden ,Glühwein zum Probieren‘ an“, erzählt Karapets. Dadurch verschleiern die Verkäufer, dass man bei ihnen sehr wohl auch mehr als eine Glühwein-Probiertasse erhält.
Hot. Cool. Yours. Auch wenn das Motto dieser Olympischen Winterspiele gut gemeint ist, entspricht es in vielen Punkten nicht dem, was Elena Karapets bisher dort erlebt hat. Dennoch: „Die Stimmung ist ganz gut. Die meisten Leute haben sich damit abgefunden, dass hier Vieles nicht top organisiert ist. Wenn man zwei Stunden in der Schlange steht, singen wir zusammen, lernen einander kennen und versuchen einfach diese Winterspiele zu genießen!“