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WÜRZBURG
„Wer Sterbenskranken zuhört, erzählt keinen Blödsinn mehr“
Herbert Scheuring
Herbert Scheuring
 |  aktualisiert: 08.01.2016 10:18 Uhr

Über den Tod und das Sterben wird viel diskutiert. Aber nicht immer ehrlich. Vom sanften Tod ist oft die Rede, nur selten von der Wut und der Angst der Betroffenen. Der Würzburger Experte Ernst Engelke, ein Pionier der Hospiz- und Palliativbewegung, hat viele Jahre lang Sterbenskranke begleitet.

Er vergleicht das Zusammenleben von Gesunden und Sterbenden mit dem Spiel eines Dame- und Schachspielers am selben Brett. Beide spielen nach ihren eigenen Regeln – und aneinander vorbei. Die Kommunikation gelingt oft nicht. Was läuft schief?

Frage: Ihr Buch trägt den provokanten Titel „Die Wahrheit über das Sterben“. Wird über den Vorgang des Sterbens denn so viel gelogen?

Ernst Engelke: Bewusst gelogen? Da bin ich unsicher. Aber aus der Sicht Sterbenskranker ist vieles, was über das Sterben gesagt wird, „Blödsinn“ – das meinte der todkranke Christoph Schlingensief. Ich bin immer neu überrascht, wie wenig Menschen, auch Ärzte und Pflegende, über die Lebenswirklichkeit Sterbenskranker wissen und dennoch darüber scheinbar wissend reden und schreiben. Wer Sterbenskranken wirklich begegnet und ihnen aufmerksam zuhört, erzählt keinen „Blödsinn“ mehr.

Gibt es überhaupt „die“ Wahrheit über das Sterben?

Engelke: Selbstverständlich gibt es „die“ Wahrheit über das Sterben: Wir Menschen müssen sterben. Wir wissen nicht, wann. Wir haben Angst vor dem Sterben. Wir wollen nicht sterben. Es gibt Übereinstimmungen im Sterben aller Menschen. Gemeinsam ist allen Sterbenskranken, dass sie mit Erkenntnissen, Aufgaben und Einschränkungen, die für das Sterben typisch sind, konfrontiert werden und die jeden persönlich herausfordern. Wer erkennt, dass er sterbenskrank ist, muss sich entscheiden, wie er mit dieser Erkenntnis umgeht.

Zur Wahrheit über das Sterben gehört auch die Wahrheit am Krankenbett, die Mitteilung der ärztlichen Diagnose. Viele behaupten, dass sie, sollten sie an einer todbringenden Krankheit leiden, vom Arzt „die ganze Wahrheit“ wissen möchten. Ist das Ihren Erfahrungen nach im Ernstfall wirklich so?

Engelke: Wer erkrankt, möchte in der Regel wissen, was mit ihm los ist. Ärzte sind verpflichtet, wahrhaftig über Diagnosen zu informieren und aufzuklären. Wir wollen zwar die ganze Wahrheit hören, aber wenn wir eine schlimme Wahrheit hören, hoffen wir, dass sie nicht stimmt.

Viele Patienten verlangen eine zweite „Meinung“ in der Hoffnung, dass die erste „Meinung“, also die schlimme Diagnose, falsch ist. Zunehmend werden sogar dritte und vierte „Meinungen“ eingeholt.

Es gibt ein Recht auf Wahrheit. Gibt es auch ein Recht auf Hoffnung?

Engelke: Sterbenskranke hoffen, dass sie (noch) nicht sterben müssen. Sie haben ein Recht auf Hoffnung, so wie sie ein Recht auf Angst, Trauer und Unruhe haben. Niemand kann ohne Hoffnung leben; sie ist ein Prinzip unseres Lebens. Die Hoffnung kann wie die Angst viele Namen und Gesichter haben. Niemand lässt sich seine Hoffnung nehmen, ob sie nun sachlich begründet oder auch unbegründet ist. Das verwirrt manche Begleiter.

Sie schreiben in Ihrem Buch, Idealisierungen des Erlebens Sterbender stünden fast immer im Widerspruch zum wirklichen Erleben Sterbender. Können Sie das näher erklären?

Engelke: Solche Idealisierungen und Ideologien werden nicht hinterfragt. Mit ihnen wird geschönt, was nicht zu schönen ist. Man hält starr an ihnen fest und weigert sich, sie zu überprüfen. Zumeist, um sich nicht mit der Wahrheit des Sterbens befassen zu müssen.

Welche Idealisierungen meinen Sie?

Engelke: Zum Beispiel: „Früher wurden Sterben und Tod akzeptiert und die Menschen sind im Kreis ihrer Familie gestorben.“ Oder: „Man muss loslassen können. Wenn der Sterbende und seine Familie das akzeptieren, ist es das Schönste überhaupt.“ Sterben ist und war zu allen Zeiten weder schön noch sanft oder angstfrei.

Die Formel, man müsse „das Sterben akzeptieren“, ist immer wieder zu hören. Akzeptieren unheilbar Erkrankte und ihre Angehörigen denn das Sterben wirklich?

Engelke: Ärzte, leider auch Palliativmediziner, Psychologen und Theologen fordern das – solange sie selbst gesund sind. Sterbenskranke wollen aber nicht sterben, sondern leben. Sie akzeptieren ihre lebensbedrohliche Erkrankung nicht und lehnen sich dagegen auf. Die gesamte Gesundheitsindustrie lebt doch glänzend davon, dass wir nicht sterben wollen. Warum sollte das bei Sterbenskranken anders sein! Ich halte diese Forderung für zutiefst unmenschlich.

Sie sind vielen Menschen begegnet, die, mit ihrem Leiden und nahenden Tod konfrontiert, die Frage nach dem Warum stellen. Ist diese Frage zu beantworten? Ist es überhaupt eine ernst gemeinte Frage?

Engelke: Sterbenskranke erwarten scheinbar eine Antwort auf ihr „Warum“. Sie wollen aber weder eine philosophische noch eine theologische Erklärung für ihr Leiden. Hinter ihrem „Warum“ steht kein Fragezeichen, sondern ein Ausrufezeichen. Mit diesem „Warum!“ protestieren sie gegen ihr Schicksal. Das hat Hiob bereits vor 2500 Jahren getan. Sie erwarten, dass ihre Begleiter ihren Protest mit ihnen aushalten.

Sterben Gläubige leichter?

Engelke: Das wird häufig angenommen oder behauptet. Aber warum sollten Gläubige leichter sterben als andere Menschen? Auch Gläubige verlieren ihr Leben, müssen sich von geliebten Menschen verabschieden. Und das soll leicht sein? Jesus selbst hatte Todesangst und wollte nicht sterben. Der Karfreitag kommt vor Ostern.

Der schwedische Schriftsteller Henning Mankell, der vor kurzem an Krebs starb, schreibt in seinem letzten Buch „Treibsand“: „Die größte Angst, die Menschen haben, ist die Angst zu sterben.“ Ist die Vorstellung, man könne Menschen die Angst vor dem Sterben nehmen, also eine Illusion?

Engelke: Manche Palliativärzte versprechen tatsächlich: „Sterben ohne Angst“. Ein Anästhesist meinte dazu: Es ist kein Problem, allen Patienten ihre Angst zu nehmen, man muss sie nur narkotisieren. Angst ist fester Teil unserer Existenz und eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten. Wir können Angst weder vermeiden noch ausschalten, sondern müssen mit ihr leben.

Elisabeth Kübler-Ross gilt in breiten Kreisen noch heute als Autorität auf dem Gebiet der Sterbeforschung. Sie beurteilen ihr Werk kritisch. Warum?

Engelke: Sie hat rigoros verlangt, das Sterben zu akzeptieren. Als sie selbst sterbend war, wollte auch sie nicht sterben. Ihr berühmtes Phasenmodell ist vielfach widerlegt; es stammt übrigens nicht einmal von ihr. Vieles von dem, was sie weltweit vorgetragen hat und was immer noch gelehrt und verbreitet wird, hat selbst ihre eigene Schwester als Spinnereien bezeichnet.

Prof. Dr. Ernst Engelke

Der Pionier der Hospizbewegung begleitet seit vielen Jahren Sterbenskranke und ihre Angehörigen. Prof. Dr. Ernst Engelke (Jahrgang 1941) lebt in Würzburg. Er studierte Philosophie, Theologie, Pädagogik und Psychologie, absolvierte eine Weiterbildung in Clinical Pastoral Training und mehreren Methoden der Psychotherapie. Während seines Studiums arbeitete er auch in der Krankenpflege. Von 1980 bis 2007 war Engelke Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt. Zuvor war er unter anderem neun Jahre lang als Klinikseelsorger tätig. Seit 2001 engagiert sich Engelke in der Akademie für Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit und auf den Palliativstationen der Stiftung Juliusspital Würzburg. Engelke ist Autor zahlreicher Fachpublikationen zur Sozialen Arbeit und zur Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit. Er führt deutschlandweit Fortbildungen für Mitarbeiter von Sozial- und Palliativstationen, Hospizen, Altenheimen und Hospizvereinen durch. Neu erschienen ist vor kurzem Ernst Engelkes Buch „Die Wahrheit über das Sterben. Wie wir besser damit umgehen“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 254 Seiten, 9,99 Euro.

 
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