Eine Anekdote ist laut Lexikon „eine kurze Geschichte mit humorvollem Hintergrund“. Als „Anekdote“ hat FDP-Chef Christian Lindner seinen parteitagsbedingt eher grobschlächtigen rhetorischen Ausflug ins Thema Ausländer und Anstehen beim Bäcker bezeichnet. Könnte sein, dass er sich mit der stilistischen Zuordnung geirrt hat, denn so richtig humorvoll kommt die Sache nicht rüber.
Aber nehmen wir Christian Lindner doch beim Wort. Wir stehen also in der Schlange beim Bäcker, vor uns bestellt ein Mensch mit dunkler Hautfarbe in „gebrochenem Deutsch ein Brötchen“. Tut er das in Südbayern oder in Berlin, dann ist das schon mal schlecht. Dann wird er zuallererst einen strafenden Blick der Bäckereifachverkäuferin ernten. Denn dort heißt das Semmel beziehungsweise Schrippe. Nicht Brötchen. Also Herr und Frau Migrant: Die Bereitschaft zu Integration sieht anders aus.
Backwaren benennen ist schon für Muttersprachler schwer
Bis hierher könnte man sich die Szene noch irgendwie anekdotisch ausmalen. Etwa so: Backwarenbestellen ist angesichts der Überfülle von traditionellen wie von Fantasiebezeichnungen schon für Muttersprachler vermintes Gelände. Wie muss sich da erst der Zuwanderer fühlen, wenn er sich zwischen Stölli, Weck, Krusti, Körni, Fitness- oder Joggingbrötchen entscheiden soll?
Doch Christian Lindner interessiert eine andere Frage: Hält sich dieser Mensch legal oder illegal in Deutschland auf? Ist er ein guter Migrant, etwa Entwickler künstlicher Intelligenz aus Indien, oder ein schlechter, also jemand, der nicht ins Land und schon gar nicht in die Schlange beim Bäcker gehört? Oder gar einen Anschlag plant und sich dafür mit Brezen stärken will?
In Lindners Konstrukt überschneiden sich, wie so oft im Leben, formaljuristische und alltagsrelevante Aspekte. Wer möchte schon jemand vor sich in der Schlange haben, dessen Aufenthaltsstatus ungeklärt ist? Lindner findet, es „müssen sich alle sicher sein, dass jeder, der sich bei uns aufhält, sich legal bei uns aufhält“. Sonst nämlich können die Menschen gar nicht anders als Angst haben und den Migranten „schief anschauen“. Genau wie die Bäckereifachverkäuferin, möchte man anmerken.
Sicherstellen, dass der Migrant mindestens Gehirnchirurg ist
Mal ganz abgesehen davon, dass Schlange stehende Menschen diejenigen, die vor ihnen stehen, grundsätzlich schief anschauen – wie, bitte, soll denn der Staat mit „einer fordernden, liberalen, rechtsstaatlichen Einwanderungspolitik“ (Lindner) verhindern, dass sich Individuen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus Brötchen kaufen? Immerhin, der Freistaat geht mit gutem Beispiel voran: Flüchtlinge sollen kein Geld, sondern nur noch Sachleistungen erhalten, hat Ministerpräsident Markus Söder angekündigt.
Dann ist wenigstens in Bayern Schluss mit dem Gestammel an der Brötchentheke. Oder, andersherum: Wenn der Fremde da vorne mal wieder nicht weiß, ob er Drei-, Vier-, Mehr- oder Vollkornweck will, dann können die anderen wenigsten sicher sein, dass er ein hoch qualifizierter Informatiker, Ingenieur oder wenigstens Gehirnchirurg ist.
Doch Ironie beiseite: Christian Lindners „Anekdote“ ist keine irgendwie missglückte Parabel auf Probleme, die es zweifelsohne auch gibt. Derlei Missgeschicke würden ihm nicht unterlaufen. Er spielt vielmehr ganz bewusst die Angst-Karte. Sein Vorstoß ist schlicht ein Aufruf zu bürgerlichem Misstrauen allem anders Anmutenden gegenüber.
Lindner beschreibt ja nicht authentische Erfahrungen, sondern die Folgen eines vorgeblichen politischen Defizits: Eben weil wir dank staatlicher Schluderei nicht sicher sein können, wer uns da im Alltag begegnet, können wir uns gar nicht sicher fühlen. Anders gesagt: Wer anders aussieht und anders spricht, hat sich gefälligst für sein Hiersein zu rechtfertigen. Diesmal in Richtung Christian Lindner: Die Bereitschaft zu Integration sieht anders aus.