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Welche „Leitkultur“ meint ein Politiker, der sich Patriot nennt
mob
 |  aktualisiert: 14.09.2017 03:25 Uhr

Oktober 2015. Die Flüchtlingszuwanderung erreicht ihren Höhepunkt. Raed Saleh spürt den wachsenden Unmut in der Bevölkerung. Er entscheidet, sich direkt den Bürgern seines Bezirks zu stellen. Der Berliner Politiker, damals wie heute Fraktionsvorsitzender der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus, sucht gezielt Kneipen im Problembezirk Berlin-Spandau auf. Er spricht mit den Menschen, trifft auf Busfahrer, Arbeiter und Lehrer. Viele haben sich von der Regierung abgewandt. Raed Saleh versucht, auf seiner Tour potenzielle AfD-Wähler zurückzugewinnen.

Nun war eben dieser SPD-Politiker zu Gast in Würzburg auf Einladung der SPD-Bundestagskandidatin Eva-Maria Linsenbreder. Im Gepäck hatte er sein im Juli beim Verlag Hoffmann und Campe erschienenes Buch „Ich Deutsch – Die neue Leitkultur“. Ein kontroverser Begriff, dem 2016 kaum ein Politiker aus dem Weg gehen konnte. Den Anfang hatte Innenminister Thomas de Maiziere mit einem in der „Bild“-Zeitung veröffentlichten Gastbeitrag gemacht. Der Titel: „Wir sind nicht Burka“. Bundesweit entbrannte daraufhin eine hitzige Diskussion. Auch im bayerischen Landtag fand ein 16-stündiger Debattenmarathon rund um das Integrationsgesetz statt.

Die Kritik der Opposition hatte sich am Begriff der Leitkultur entzündet. Für den SPD-Landtagsabgeordneten Volkmar Halbleib ist das bis heute diskussionswürdig: „Dies ist kein Begriff, der in einem Gesetzestext verwendet werden kann, weil er nicht klar definiert ist. Was passiert denn, wenn man gegen die Leitkultur verstößt?“

Raed Saleh unternimmt in seinem Buch den Versuch, eine „neue deutsche Leitkultur“ zu skizzieren, die den Gedanken der Aufklärung und den Grundlagen der deutschen Verfassung folgt. Er sieht sie als „politischen, moralischen und kulturellen Minimalkonsens“ – quasi als Hausordnung für Deutschland. Dabei hat Saleh vor dem Hintergrund der starken Zuwanderung in den vergangenen beiden Jahren besonders die Integration im Blick. Seine These: „Das Aufnehmen und Verarbeiten des Fremden ist schon immer Teil der deutschen Leitkultur gewesen. Unser Leben ist gerade in den letzten zwei Jahren vielleicht bunter geworden, aber keinesfalls weniger deutsch.“

Kann er denn kein Verständnis aufbringen dafür, dass viele Deutsche in Zeiten hoher Zuwanderung auf der Suche nach einer nationalen, kulturhistorischen Identität sind? Schnell hat der 40-Jährige eine Antwort parat: „Wir müssen versuchen, Migranten unsere Geschichte schmackhaft zu machen. Es gilt, unsere Kultur zu fördern und gleichzeitig im Stande zu sein, Neues zu integrieren.“

Dieser Ansatz einer dynamischen, sich weiterentwickelnden Leitkultur spiegelt sich in seinem Buch deutlich wieder. Die statischen zehn Punkte von Thomas de Maiziere, in denen er unter anderem auf soziale Umgangsformen, den Leistungsgedanken, auf kulturhistorische Geschichte, Patriotismus und die Bedeutung der Religion in Deutschland eingeht, seien „plump“ formuliert und zum Scheitern verurteilt gewesen, findet Saleh. „Statt mit dem Finger auf die Zuwanderer zu deuten und eine Scheindebatte zu konstruieren, möchte ich ins Gespräch kommen. Leitkultur ist nicht festgeschrieben, sondern entsteht aus dem Alltag der Menschen heraus.“

Auch er findet aber, dass eine „Multikulti-Gesellschaft ohne gesellschaftliche Ordnung“ nicht funktionieren kann. Die Fehler einer „falsch verstanden Toleranzpolitik“ der vergangenen Jahrzehnte dürften sich nicht wiederholen. Leitkultur brauche vielmehr „als gemeinsamen Nenner klare Spielregeln“. Der Begriff stehe für eine geistige Haltung, die ständig verteidigt und neu belebt werden müsse. Wichtig sei, dass die Zivilgesellschaft allen extremistischen Rändern klar die Grenzen von Demokratie und Toleranz aufzeige. Dabei folgt er den Gedanken von Gesine Schwan, ehemals Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin: „Eine moderne Leitkultur muss sich auf unsere Verfassung stützen und demokratisch sein, nicht ethnisch oder gar völkisch.“ Saleh überrascht mit der Aussage, er sei bekennender Patriot. Ein Vaterland wie Deutschland zu haben und auf dieses stolz zu sein, sei wichtig, so Saleh, aber eben in einer aufgeklärten und friedlichen Form.

Gerade in den Großstädten sind aber auch Brennpunkte mit hohem Zuwandereranteil Teil der Realität. Immer wieder werden diese als „No-Go-Areas“ bezeichneten Viertel argumentativ genutzt, um vor einer „Islamisierung“ und einem „Verlust deutscher Identität“ zu warnen und damit eine „Leitkultur“ a la de Maiziere zu rechtfertigen. Raed Saleh macht soziale Ungleichheit und die schon erwähnte falsch verstandene „Toleranzpolitik“ für die Entwicklung in diesen Stadtvierteln verantwortlich. „Hier ist Integration gescheitert“, findet der SPD-Politiker.

Genauso wie Raed Saleh 2015 mit seiner „Kneipentour“ durch Spandau bundesweit Schlagzeilen machte, versucht er auch mit seinem Buch, Menschen aller Schichten und Überzeugungen zu erreichen. Der Leiter der Presseabteilung der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus und Co-Autor des Buches, Markus Frenzel, findet: „Es sagt schon viel aus, dass es ein Politiker, der zu seinen Wählern geht und ihnen zuhört, auf die Titelseite der ,FAZ‘ schafft. Sollte das nicht eigentlich normal sein?“

Die Bürger konfrontierten Saleh damals mit so alltäglichen Problemen wie dem, dass die Busse, seit viele Flüchtlinge in Berlin ankommen, immer voller würden. Was sei da die richtige politische Antwort, um einer Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken, fragt Saleh: eine Zehn-Punkte-Leitkultur oder eine erhöhte Bustaktzahl? Eine rhetorische Frage. Er suchte und sucht das Gespräch mit solchen Fragestellern, anstatt sie als Ausländerfeinde zu brandmarken.

Zur Person

Raed Saleh, 1977 im Westjordanland geboren, kam als Kind nach Deutschland. Er wuchs im Berliner Brennpunkt-Viertel Spandau auf. Mit 18 Jahren wurde er Mitglied der SPD. Ein Medizinstudium brach er ab. Seit 2006 sitzt er als Abgeordneter im Berliner Abgeordnetenhaus, 2011 wurde er zum Fraktionsvorsitzenden der SPD gewählt. Politisch befasst er sich besonders mit dem Themen soziale Gerechtigkeit, Bildung und Integration. mob/Foto: Moritz Baumann
 
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