Massaker in Syrien, Ausschreitungen in Ägypten – die arabische Welt ist nach wie vor in Aufruhr. Die Umwälzungen des Arabischen Frühlings sind laut Nahost-Korrespondent Martin Gehlen noch nicht abgeschlossen. Im Interview spricht er über die Chancen der Demokratie in der Region, seine Arbeit zwischen Demonstranten und Scharfschützen während der Revolution und die gefährliche Rolle, die die Islamisten heute in den sich neu ordnenden Ländern spielen.
Martin Gehlen: Es war insgesamt eine aufregende Zeit, vor allem weil man nie wusste, was als Nächstes passiert und ob es zu Eskalationen kommt. Es gab Scharfschützen auf den Dächern, Schlägertrupps und Plünderungen. Und die Bevölkerung hatte sich bewaffnet – teilweise mit Schrotflinten oder Fleischermessern –, um sich zu schützen. Heute aber ist allen klar – im Vergleich zu Libyen und Syrien verlief die Revolution in Ägypten ziemlich glimpflich.
Gehlen: Ich habe damals mit drei Kollegen in einer Privatwohnung in Kairo gelebt. Wir sind nie alleine rausgegangen, immer mindestens zu zweit, damit einer Hilfe holen kann, falls dem anderen etwas passiert. Uns ist nie etwas zugestoßen, hatten aber auch Glück: Zum Zeitpunkt der berühmten Kamelschlacht auf dem Tahrir-Platz waren wir noch zu Hause. Es war reiner Zufall, dass wir an diesem Tag nicht schon zwei Stunden früher losgegangen sind.
Gehlen: Ja, wesentlich. Weil die Leute in Ägypten, Tunesien und Libyen stärker politisiert sind. Sie haben jetzt das Gefühl, dass sie mitreden können, und machen sich Gedanken über ihre Zukunft. Außerdem ist in den Ländern nach wie vor enorm viel los. Vor dem Arabischen Frühling hat man über Länder wie Libyen oder Tunesien vielleicht einmal im Jahr etwas geschrieben. Und in Ägypten gab es nur ein politisches Thema, nämlich die Frage, wie und wann Mubarak seinen Sohn als Nachfolger installiert.
Gehlen: Das wird noch dauern. Nehmen Sie die deutsche Wiedervereinigung oder den Ost-West-Konflikt. Es dauert schon mal eine Generation, bis solch tiefgreifende Veränderungen wirklich abgeschlossen sind. Die Umwälzungen sind in keinem der genannten Länder schon zu Ende.
Gehlen: Mit den Revolutionen hat die Bevölkerung die Hoffnung auf bessere Verhältnisse verbunden, zum Beispiel im sozialen Bereich. Ob und wann die neuen Machthaber diese Hoffnungen erfüllen können – das ist schwierig zu sagen. Es fehlt ein funktionierender Sozialstaat, das Wirtschaftswachstum stagniert, die Auslandsinvestitionen bleiben weg und in den Staatshaushalten klaffen riesige Löcher.
Gehlen: Entscheidend wird sein, ob Wahlen auch friedliche Machtwechsel ermöglichen werden. In Tunesien und Ägypten sind im Moment Islamisten an der Macht. Man muss nun sehen, wie stark sie ihre Macht zementieren werden. Im schlechtesten Fall hat der Arabische Frühling nur zu einem Elitenwechsel geführt.
Gehlen: Gerade in Ägypten spitzt sich die Lage in diesem Punkt zu. Bei den Parlamentswahlen holten Muslimbrüder und Salafisten zusammen 75 Prozent, in der verfassungsgebenden Versammlung stellen sie zwei Drittel. Und die Bürger werden wahrscheinlich einer Verfassung zustimmen, in der die Scharia als Rechtsgrundlage festgeschrieben wird.
Gehlen: Vergessen Sie nicht: Die Revolution spielte sich vor allem in den Städten ab. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung aber lebt auf dem Land. Viele sind Analphabeten. Wenn man diesen Leuten sagt, stimmt für dies oder jenes, das ist gut für den Islam, dann stimmen sie dafür. Die gebildeten städtischen Schichten sind zahlenmäßig deutlich unterlegen.
Gehlen: In Ägypten und auch in Tunesien sprudelt das Geld nicht in Form von Öl aus dem Boden. Deswegen haben diese Länder – anders als Saudi-Arabien oder Iran – kein Geld für islamistische Eskapaden. Wenn man einfach nur Öl pumpt und es verkauft, kann man es sich wie Saudi-Arabien leisten, Zehntausende Frauen mit Staatsstipendien im Ausland studieren zu lassen und ihnen dann zu Hause das Arbeiten verbieten. Aber in Ägypten beispielsweise kommt das Geld zu wichtigen Teilen aus dem Tourismus . . .
Gehlen: Wenn man auf ausländische Touristen angewiesen ist, muss man moderater sein. Ihr langfristiges Ziel allerdings, der Gesellschaft ein islamisches Gesicht zu geben, das werden die Muslimbrüder nicht aufgeben.
Gehlen: Diese Einschätzung ist sicher nicht falsch. Die Frauen ergriffen im Arabischen Frühling selbst die Initiative: Man denke nur an Tawakkul Karman, die eines der bekanntesten Gesichter der Proteste im Jemen war und 2011 den Friedensnobelpreis erhielt. In Ägypten und Tunesien haben viele Frauen gebloggt und so die Massen mit mobilisiert. Jetzt aber, wo sich alles institutionalisiert, spielen Frauen eine untergeordnete Rolle: In Ägypten liegt ihr Anteil im Parlament bei zwei Prozent, in der hundertköpfigen verfassungsgebenden Versammlung sitzen nur sechs Frauen – dafür aber gut 60 Islamisten.
Nahost-Korrespondent Martin Gehlen ist am Montag, 29. Oktober, 19 Uhr, gemeinsam mit seiner Frau, der Fotografin Katharina Eglau, Gast der Main-Post-Akademie im Main-Post-Casino in Würzburg. Thema: „Der Arabische Frühling und seine Frauen“. Die Teilnehmerzahl für den Vortrag ist begrenzt. Den Teilnehmerbetrag von 5 Euro bucht die Main-Post-Akademie vom Konto ab. Anmeldeschluss: 26. Oktober. Kontakt: Tel. (09 31) 60 01 60 09