Man wünschte sich mehr Mut. Vielleicht hätten die Staats- und Regierungschefs der EU ein paar „Fridays for future“-Jugendliche und Vertreter der Kundgebungen gegen die Uploadfilter zu ihrem Gipfel in Sibiu dazu holen sollen. Außerdem einige Mitglieder von Pulse of Europe und Bundeswehr-Soldaten, die gerade in Mali stationiert sind. Möglicherweise hätten einer dieser EU-Bürger irgendwann nach der Verabschiedung mit den hochtrabenden Versprechungen, man wolle künftig „gemeinsam durch dick und dünn“ gehen, dazwischen gerufen: Und was heißt das jetzt?
Der Satz von Bundeskanzlerin Angela Merkel, alle seien überzeugt, dass gemeinsames Handeln besser ist, war zwar gelungen, konnte aber dennoch nicht die Realität überspielen. Die Geschlossenheit und Solidarität, die die Gemeinschaft bisher im Verlauf der Brexit-Verhandlungen gezeigt hat, nährte das wohltuende Gefühl, es könne doch noch so etwas wie einen gemeinsamen Nenner geben. Den aber vermissen die Bürger schmerzlich, wenn es um die akuten Herausforderungen geht.
Der Bedarf an hochtrabenden Worten ist nun wirklich gedeckt
Nein, die EU hat kein Defizit an gutem Willen, wohl aber ein Mangel am Vollzug jener Erkenntnisse, von denen alle wissen, dass sie umgesetzt werden müssen. Weil die Union ansonsten beim Klimaschutz, bei der Digitalisierung oder beim globalen Handel verliert. Nicht einer, sondern alle.
Dabei wissen alle Regierungen, wie sehr sie einander brauchen – der wiederaufgeflammte Konflikt um das iranische Atomprogramm zeigt das wie im Brennglas. Der drohende Handelskrieg mit den USA, die bedrohliche Politik Russlands, die immer spürbareren Folgen der Fehler beim Klimaschutz – dies sind alles Herausforderungen, die keiner der 28 Mitgliedstaaten alleine bewältigen könnte.
Allerdings ist der Bedarf an hochtrabenden Worten und vielversprechenden Papieren nun wirklich gedeckt. Diese Gemeinschaft mag um den richtigen Kurs streiten – das gehört dazu. Aber sie muss anschließend mit einer Zunge sprechen. Das fehlt. Und es wäre so nötig gewesen, zwei Wochen vor den Wahlen zum Europäischen Parlament – noch dazu in einer Phase, in der auf allen Chef-Etagen in den Institutionen Abschiedsstimmung herrscht und ein charismatischer Realist an der Spitze fast schon schmerzhaft vermisst wird. Insofern sind die Staats- und Regierungschefs ihrem Auftrag, diese EU durch konkrete Ansagen voranzubringen, nicht wirklich überzeugend nachgekommen.
Dabei stimmt die Analyse: Europa muss selbstbewusster, aber auch selbstsicherer auftreten. Spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem US-Präsident Donald Trump deutlich gemacht hat, dass er einen protektionistischen Kurs fahren würde, hätte man begreifen müssen, dass die EU künftig auf sich selbst gestellt ist – gestützt auf ein dichtes Netz von Handelspartnern, mit denen man nicht nur über die Zollfreiheit, sondern auch über politische Grundwerte Einigkeit erzielt. Aber eben auch zurückgeworfen auf sich selbst, um eine Herausforderung wie das Flüchtlingsproblem zu lösen, um nicht erpressbar zu werden von Regimen wie in Ankara oder Teheran, die je Stimmungslage mit dem Durchwinken von Hilfesuchenden drohen.
Aus dem Musterschüler Deutschland ist einer der größten Bremser geworden
Das Konzept der Bundeskanzlerin, auf einen möglichst breiten Konsens der Mitgliedstaaten setzen zu wollen und niemanden auszugrenzen, mag ja plausibel sein. Aber es ist, wie die Wirklichkeit zeigt, eben auch riskant. Weil es im Ergebnis dazu führt, dass einige wenige die gesamte Union blockieren, wenn nicht sogar sabotieren können.
Hinzu kommt, dass aus dem einstigen europäischen Musterschüler Deutschland längst einer der größten Bremser geworden ist. Auch wenn man die Sinnhaftigkeit mancher Reformvorschläge wie beispielsweise aus Paris oder neuerdings Wien mit Recht anzweifeln darf, so stößt das Hinhalten, Vertrösten und scheibchenweise Ablehnen neuer Ideen für ein effizientes Europa in Berlin doch auf wachsendes Unverständnis, bei einigen auch auf Verärgerung.
Manch einer wünscht sich, dass die erkennbar ungeklärte Führungsfrage in Deutschland bald beantwortet wird, um wieder einen verlässlichen und stabilen Partner zu haben, der erneut mit Elan vorangeht, anstatt sich nur auf das Bewahren des Erreichten zu beschränken. Die EU muss vorankommen, denn die Herausforderungen sind zu groß, um sich weiter aufs Vertagen und Verschieben zu verlassen.