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Würzburg
Kommentar: Die unfassbaren Missbrauchsfälle sind eine Mahnung
Die Taten machen wütend und ratlos, das Urteil aber ist deutlich. Warum der Prozess gegen einen Würzburger Logopäden am Ende auch Lichtblicke zeigt.
Der Angeklagte am letzten Prozesstag vor dem Richter.
Foto: Thomas Obermeier | Der Angeklagte am letzten Prozesstag vor dem Richter.
Manfred Schweidler
 |  aktualisiert: 13.02.2024 19:10 Uhr

Der Würzburger Missbrauchsfall sprengt fast die Grenzen der Vorstellungskraft: Dieser so jungenhaft, fast schüchtern wirkende Mann auf der Anklagebank soll zur Befriedigung seiner Triebe jede Rücksicht beiseite gewischt und kleine Buben vergewaltigt haben?

Als Prozessbeobachter tut man sich schwer, das zu glauben. Doch wem sieht man das Monster im Menschen schon an? Den Vorsitzenden Richter erinnerte der Angeklagte an Jekyll und Hyde, den Verbrecher mit den zwei Gesichtern: Öffentlich der geschätzte einfühlsame Logopäde, der heimlich sein Ansehen nutzte, um stumm und ohne erkennbares Mitleid die ihm anvertrauten Kinder zu missbrauchen.

Mit dem Urteil gut weggekommen

Dafür muss der Angeklagte nun elf Jahre und vier Monate in Haft. Und er darf nie wieder als Logopäde kleine Buben behandeln. Mit diesem Urteil kommt er noch "gut weg", bedenkt man, dass die Staatsanwältin wegen der Schwere der Straftaten fast 14 Jahre Haft gefordert hatte und die Opferanwälte eine Sicherungsverwahrung verlangten. Die aber war rechtlich nicht mehr möglich, nachdem ein Gutachten prognostiziert hatte: Von dem Täter werde nach Haftstrafe und Therapie so gut wie keine Gefahr mehr ausgehen.

Nach 14 Monaten Ermittlung und zwölf Wochen Prozess besteht kein Zweifel mehr: Oliver H. hat Kinder missbraucht bis zur Vergewaltigung, um Bilder zum Tauschen zu bekommen, die seiner Befriedigung dienten. Sich Opfer im Kindergartenalter zu suchen, die wegen ihrer Behinderung nicht einmal andeutungsweise mitteilen können, was ihnen angetan wurde, ist perfide, unfassbar, unbegreiflich.

Erschreckend: Kein Einzelfall, Missbrauch ist verbreitet

Das Vorgehen macht jedes Verständnis schwer für einen Täter, der zwar Mensch ist und bleibt, aber bestialisch handelte. Entsetzlich dabei ist: Die Fälle sind erschreckend verbreitet. Man hört von Priestern, Lehrern oder Trainern, die ihre Macht über Schutzbefohlene ausnutzen. Und womöglich erkennt man in einer Fernsehdokumentation über sexuelle Ausbeutung von Kindern in der Dritten Welt ausgerechnet den eigenen Nachbarn in Handschellen, der jahrelang im Urlaub unerkannt seine Neigung ausgelebt haben muss.

Es sind nicht nur ein paar wenige Einzelne, die so "gestrickt" sind wie der 38-jährige Logopäde aus Würzburg. Das Bundeskriminalamt spricht von einem Anstieg der Delikte um 65 Prozent im vorigen Jahr. Und als vier Kinderporno-Dealer auf der geheimen Plattform „Elysium“ bis 2018 alle Arten von Dreck anboten, wollten binnen weniger Monate 110 000 Gleichgesinnte dort in unmenschlicher Geilheit den Missbrauch von Kindern auf Bildern sehen.

Ungewissheit für andere Eltern geht weiter

Der Missbrauch in Würzburg hat jede Menge Opfer hinterlassen: bei den Kindern und ihren Familien, bei Homosexuellen, für die der Logopäde und sein Mann einmal Vorzeigefiguren zum Abbau von Vorurteilen waren. Bei Kita-Mitarbeitern, die sich nachsagen lassen müssen, sie hätten doch etwas bemerken müssen von dem jahrelangen Missbrauch. Und die Eltern vieler anderer Kinder leben weiter mit der Angst, ihr Sohn sei vielleicht auch eines von 24 möglichen weiteren Opfern des Logopäden geworden – auch wenn sich dies nicht beweisen lässt.

Aber es gibt Lichtblicke: Die Polizei hat sich nicht auf Ermittlung beschränkt, sondern in den Wochen nach der Aufdeckung des Falles Hunderten verunsicherter Eltern Halt und Hilfe gegeben. Die Cybercrime-Spezialisten der Staatsanwaltschaft haben zielgerichtet ermittelt, um Schuld und  Unschuld Beteiligter festzustellen. Und das Gericht hat sich von der Angst vor Corona nicht an der Suche nach der Wahrheit hindern lassen.

Ja, es könnte weit mehr Hilfsbereitschaft für die Opfer geben. Aber vielleicht wächst nun die Kultur der Aufmerksamkeit. Der Mantel des Schweigens, der in der Vergangenheit Täter deckte, hat Löcher bekommen. Das ist gut so – für unsere Kinder und uns.

 
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  • karibuka
    @meefisch. Die Erkrankung nach sexuellem Missbrauch nennt sich posttraumatische Belastungsstörung. Durch Trigger werden die selben Reaktionen wie in der Vergewaltigungssituation hervorgerufen: Panik, Herzklopfen, Schweißausbrüche, das Gefühl des totalen Ausgeliefertseins und der Erstarrung. Eine posttraumatische Belastungsstörung entsteht, wenn ein Mensch Todesangst hatte, aber weder fliehen noch kämpfen konnte. Dann bleibt als einzige Reaktion die Erstarrung. Die erlebte Todesangst wird im Gehirn mit Reizen der Außenwelt verbunden. Dies sind dann die Trigger, Gerüche, Geräusche, visuelle Eindrücke, Körperempfindungen etc. Diese Trigger lösen dann ständig traumatische Erinnerungen aus, die für den Betroffenen genauso intensiv und schlimm sind wie die Todesangst selbst. Ein normales Leben ist mit dieser Erkrankung unmöglich, Sozialkontakte sind kaum noch denkbar, denn Trigger sind überall. Es ist extrem quälend. Nach jahrelangem Missbrauch ist die Krankheit komplex und schwer heilbar.
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  • karibuka
    Die Täter hinterlassen ein Trümmerfeld an zerbrochenen Seelen. Wenn wir in unserer Gesellschaft alle Pädokriminellen frei herumlaufen lassen, werden wir immer mehr psychisch kranke Menschen haben, die ihre Traumatisierungen nicht überwinden. Wie viele Leben hat dieser Oliver H. zerstört und wie viele wird er noch zerstören, wenn er wieder frei ist? Die pädosexuellen Täter machen diese Welt doch unerträglich. Sogar im Tierreich genießen Jungtiere Schutz, z. B. bei Hunden gibt es den Welpenschutz. Erwachsene Tiere lassen vom Welpen ab, sobald er anfängt zu wimmern. Haben Tiere denn mehr Mitleid als diese Menschen?
    Jeder Mensch ist doch nicht nur ein Trieb-, sondern auch ein Vernunftwesen, das seine Triebe kontrollieren und steuern kann. Die Neigung ist ja nicht strafbar, sondern die pädokriminelle Handlung. Pädokriminell zu sein, ist keine Krankheit. Ein fehlendes Gewissen, kein Mitgefühl, mangelnde Ethik, Egoismus und Bösartigkeit sind Eigenschaften dieser Täter.
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  • info@softrie.de
    Ich muss dem Autor widersprechen. Das ist eine sehr, sehr schlimme Krankheit. Keiner, der diese Krankheit hat, feiert sich darauf ab, solche Pornos zu konsumieren oder kleine Kinder zu missbrauchen.

    Setzen Sie sich mal mit ein paar Experten der Psychiatrie zusammen und lassen sich das Mal ganz genau erklären.
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  • romulus2417@yahoo.de
    Dieser Kommentar trägt nicht zur Diskussion bei und wurde daher gesperrt.
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  • fabian-koenig@t-online.de
    Von welcher Krankheit sprechen Sie? Und was meinen Sie mit „Keiner... feiert sich darauf ab“? Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.
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  • info@softrie.de
    Lesen Sie Fachliteratur. Ich schreibe hier jedes Mal, dass es dazu Bücher gibt. Die liest nur keiner, weil das Thema halt nicht sexy. Es gibt zu wenig Anlaufstellen für Leute, die auf Kinder stehen.
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  • karibuka
    Aus eigener Erfahrung und Betroffenheit möchte ich noch einmal auf das Phänomen des victim blamings aufmerksam machen. Täter, aber auch Verantwortliche versuchen häufig, die Verantwortung von sich zu schieben und die Opfer mit den abstrusesten Vorwürfen zu konfrontieren. Die Opferbeschuldigung ist ein sehr übliches, aber auch ein zutiefst unethisches Verhalten. So können regelrechte Rufmordkampagnen ins Leben gerufen werden. Einer setzt Gerüchte aus Bosheit in die Welt, um sich selbst als unangefochten darzustellen, und andere tratschen sie aus Dummheit weiter. Ich habe sehr unter diesem victim blaming gelitten. Zum Beispiel warf mir jemand vor, dass andere Kinder sexuellen Missbrauch besser verkraftet hätten als mein Sohn. Ist er jetzt also schuld, weil er sensibler ist als andere? Oder ich, weil ich es nicht schaffe, meinen Sohn zu heilen? Durch das Prinzip der Opferbeschuldigung werden Betroffene zusätzlich traumatisiert!
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