Mit dem Wort Stolz ist sie sehr vorsichtig. „Man ist doch die, die man ist“, sagt Petra Rosenberg. Eine Schülerin hatte wissen wollen, seit wann sie stolz sei, eine Sintiza zu sein. Petra Rosenberg, Jahrgang 1952, ist die älteste Tochter von Otto Rosenberg, der als einziges von elf Geschwistern Auschwitz überlebte. So ist es wohl nicht Stolz, was sie ausstrahlt, sondern Stärke. Petra Rosenberg, eine eher kleine, zierliche Frau, wirkt ungeheuer stark. Was man wohl auch sein muss, wenn man vor Schulklassen aus einem Buch vorliest, in dem der eigene Vater schildert, was ihm angetan wurde.
Otto Rosenberg hat es lange Zeit nicht fertiggebracht, über Schikanen, Demütigungen, Folter und Morde in den Konzentrationslagern zu sprechen. Erst 1998 gab er der Bitte von Ulrich Enzensberger nach, dem Bruder von Hans Magnus, seine Geschichte zu erzählen, die dann unter dem Titel „Das Brennglas“ erschien. Petra Rosenberg hätte es nie gewagt, zu Lebzeiten ihres Vaters öffentlich aus diesem Buch vorzulesen. Dass sie es heute tut – wie jüngst im Schweinfurter Bayernkolleg –, das kam eher zufällig. „Meine ganze jetzige Arbeit hat sich zufällig ergeben“, sagt sie.
Otto Rosenberg starb 2001. Petra Rosenberg führt als Vorsitzende des Landesverbands der Sinti und Roma in Berlin seine Arbeit fort. Über 500 000 Sinti und Roma sind von den Nationalsozialisten ermordet worden. Sie sind damit die zweitgrößte Opfergruppe und dennoch erst sehr spät als Verfolgte des NS-Staats anerkannt worden. Die Diskriminierung, so berichtet Petra Rosenberg, ging nach 1945 ohne Bruch weiter. Sie selbst ist in der Schule als „dreckige Zigeunerin“ beschimpft worden. Der Vater intervenierte immer sofort: „Der machte daraus jedes Mal einen Skandal. Wir Kinder wollten das gar nicht, wir wollten sein wie alle anderen.“ Einmal bekam einer der Beleidiger vom Schuldirektor immerhin eine saftige Ohrfeige. Dennoch war der Schulalltag für sie so belastend, dass Petra Rosenberg ohne Schulabschluss abging.
Noch als sie in den 1980er Jahren das Abitur nachmachte, hatte sie panische Angst, dass ihre Herkunft herauskommen könnte. Als ihre Schwester Marianne als Schlagersängerin berühmt wurde, verschwieg auch sie, dass sie Sintiza ist. „Das haben uns andere Sinti übel genommen“, erzählt Petra Rosenberg. „Die haben gefragt: Schämt ihr euch?“ Der Vater habe dann geantwortet: „Kauft etwa ihr die Platten?“ Erst als der Vater seinerseits bekannt wurde, fiel diese innerfamiliäre Regel.
Als Petra und ihre sechs Geschwister klein waren, fragten sie den Vater hin und wieder, was die Tätowierung an seinem Arm bedeute. Und merkten schnell, dass der nicht darüber sprechen wollte. Später ließ er einen Engel über die „Z6084“ stechen. Einmal wachte Petra Rosenberg nachts auf, weil sie den Vater weinen hörte. Er saß in der Küche und sagte: „Ich habe keinen Menschen mehr auf der Welt.“ – „Es ist nicht leicht, den eigenen Vater so verletzlich zu erleben“, sagt seine Tochter. Otto Rosenberg hat seine ganze Familie im Holocaust verloren. Nur die Mutter überlebte. „Wir haben keine Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen.“
Das Trauma Auschwitz hat einen Schatten auf die ganze Familie geworfen: die Strenge des Vaters, die auf tiefster Verlustangst gründete. „Wir durften nicht Radfahren, nicht ins Schwimmbad.“ Ihr ganzes Leben wäre anders verlaufen, wäre der Vater nicht Opfer des NS-Staats gewesen. „Ich habe immer gedacht, dass meine Mutter die Schwächere war. Heute weiß ich: Wer mit jemandem lebt, der durch diese Hölle gegangen ist, der muss sehr stark sein.“ Petra Rosenberg hat auch lange gebraucht, bis sie begriff, warum der Vater Feste wie Weihnachten so fürchtete: Dann vermisste er all die Toten besonders stark. Und sagte: „Das ist der einzige Trost, den man noch hat: an seine Menschen denken.“
Otto Rosenberg hat seine Erinnerungen mündlich weitergegeben – nicht, weil er des Schreibens oder Lesens nicht mächtig gewesen wäre. „Das gesprochene Wort hat einen ganz anderen Stellenwert“, sagt Petra Rosenberg. Ruhig, fast bedächtig, liest sie die klaren Sätze ihres Vaters. In ihrer ehrlichen Schlichtheit, in ihrem vollkommenen Mangel an Selbstmitleid und Anklage sind sie herzzerreißend. Die Willkür der Schergen, die Leichenberge, die totale Auslieferung, die Abstumpfung der Täter wie der Opfer. Hin und wieder stockt ihre Stimme, aber nur kurz. Zur Routine wird das Lesen wohl nie werden: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir das irgendwann nicht mehr nahegeht“, sagt sie.
Das Morden beginnt mit der Ausgrenzung, sagt Petra Rosenberg. „Wehret den Anfängen, sagt man, und wir haben längst wieder Anfänge.“ Es könne deshalb nie genug sein mit der Erinnerung an die Gräueltaten der Nazis. Nicht, solange irgendwo Menschen, Angehörige egal welcher Minderheit, von Stigmatisierung und Ausgrenzung betroffen sind. Die deutschen Sinti seien ein perfektes Beispiel für gelungene Integration. Aber den Roma, die dieser Tage aus Bulgarien und Rumänien kommen, schlägt oft blanker Rassismus entgegen. „Wer kennt denn jemanden persönlich?“, fragt Petra Rosenberg ins Publikum. „Es gibt nicht die Roma.“ Gegen Unwissen, Vorurteile und pauschale Ablehnung hat sie nur ein Rezept: „Man muss miteinander ins Gespräch kommen. Sprechen Sie uns an!“
Petra und Otto Rosenberg
Petra Rosenberg, geboren 1952, ältere Schwester der Sängerin Marianne Rosenberg, ist Vorsitzende des Landesverbands der Sinti und Roma in Berlin. 2010 initiierte sie den Ort der Erinnerung und Information zum ehemaligen NS-Zwangslager für Sinti und Roma am Otto-Rosenberg-Platz in Berlin-Marzahn.
Otto Rosenberg (1927–2001) hat als einziges von elf Geschwistern Auschwitz überlebt. Er gehört zu den maßgeblichen Mitbegründern der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma in Deutschland. Bis zu seinem Tod setzte er sich für deren gesellschaftliche Gleichstellung ein.