Es war der Abend, an dem die Nachrichten vom Terroranschlag in Hanau die Republik erschütterten. Im Shalom Europa, dem jüdischen Gemeindezentrum in Würzburg, diskutierte Ludwig Spaenle (58) bei einer CSU-Veranstaltung über Wege, Antisemitismus zu bekämpfen und jüdisches Leben zu schützen. Von 2008 bis 2018 war Spaenle bayerischer Kultusminister, ab 2013 auch Wissenschaftsminister. Im Mai 2018 ernannte Ministerpräsident Markus Söder den CSU-Politiker zum Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe.
Ludwig Spaenle: Ich wünsche mir von Herzen, dass so etwas nie passiert. Aber insbesondere der Angriff auf die jüdische Synagoge in Halle im Herbst vergangenen Jahres hat ebenso wie der Anschlag von Hanau gezeigt, zu welchen Verbrechen von Antisemitismus, Rassismus oder Extremismus geleitete Personen fähig sind. Wir müssen alles tun, um solche Verbrechen zu verhindern.
Spaenle: Oft sind es Hasspostings, Fälle von Volksverhetzung oder Holocaust-Leugnung. Es werden aber auch körperliche Angriffe angezeigt.
Spaenle: Weit über 90 Prozent werden dem rechtsextremen Milieu zugeordnet. Wir haben aber auch Täter mit muslimischem oder linksextremem Hintergrund.
Spaenle: Die Entwicklung ist erschreckend. Sie hat viel mit der Veränderung des politischen, des gesellschaftlichen Klimas zu tun. Da ist zum einen die vermeintliche Debattenkultur im Nirwana des Internet, der Glaube vieler, das Netz sei ein rechtsfreier Raum. Die Staatsregierung hat gesetzgeberische Initiativen ergriffen, die Bundesregierung hat jetzt Konsequenzen gezogen und schärfere Gesetze beschlossen. Das begrüße ich sehr. Der Staat muss Wehrhaftigkeit demonstrieren. Antisemitismus verstößt gegen die Menschenwürde.
Spaenle: Die AfD trägt mit ihrer Rhetorik ebenfalls Verantwortung für eine Verrohung. Wenn Politiker dieser Partei von tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte sprechen, also bewusst auf den NS-Begriff vom tausendjährigen Reich anspielen, dann signalisiert das einem bestimmten Teil der Gesellschaft, ebenfalls den NS-Terror zu relativieren und unverhohlen Judenhass zu äußern. So eine Verschiebung von Toleranzgrenzen und Tabus führt letztlich zu Gewalttaten wie in Halle.
Spaenle: Ich hoffe doch. Und diese Anzeigen werden entsprechend verfolgt. Seit einem Jahr gibt es beispielsweise bei allen drei Generalstaatsanwaltschaften in Bayern eigene Antisemitismus-Beauftragte. Sie tragen dafür Sorge, dass die Taten überall auf gleiche Weise verfolgt werden, sie sollen das Bewusstsein für antisemitische Hintergründe von Straftaten schärfen.
Spaenle: Das ist eine niederschwellige Meldestelle für Menschen, die Opfer von Antisemitismus werden, aber nicht zur Polizei gehen möchten. Außerdem werden hier auch die Übergriffe registriert, die strafrechtlich nicht relevant sind. Opfer werden hier auch fachlich beraten und begleitet. Die Fälle werden inhaltlich ausgewertet.
Spaenle: Das beginnt schon damit, wenn das Wort "Jude" als Schimpfwort auf dem Schulhof benutzt wird. Oder denken Sie an die vielen Stereotypen, denen Menschen jüdischen Glaubens begegnen. Erst neulich habe ich folgende Geschichte gehört: Zwei Geschäftspartner, ein jüdischer und ein nichtjüdischer, die schon länger zusammenarbeiten, treffen sich zu einem gemeinsamen Steuerberater-Termin. Plötzlich sagt der nichtjüdische zu seinem Kollegen: Privat brauchen Sie ja keinen Steuerberater, Sie als Jude zahlen doch in Deutschland keine Steuern. Unvorstellbar, welcher Unsinn da kursiert.
Spaenle: Antisemitismus ist so alt wie das Judentum selbst – den wird man nie ausrotten können. Um dagegen anzugehen, braucht es drei Dinge: Solidarität, Prävention – und Repression. Letztere ist Sache von Polizei und Justiz. Ich verstehe mich als Ombudsmann für die rund 15 000 Jüdinnen und Juden in Bayern. In den jüdischen Gemeinden bin ich regelmäßig vor Ort, um Kontakt zu halten. Prävention heißt unter anderem, die Zivilgesellschaft für das Thema Antisemitismus zu sensibilisieren. Immer mehr Institutionen, Kommunen, Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, Kirchen oder auch Sportvereine machen sich die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (Internationale Allianz zum Holocaust-Gedenken) zu eigen. Die Definition enthält Beispiele, wie man Judenhass erkennt, etwa am Reden von der jüdischen Weltverschwörung oder am Bestreiten des Ausmaßes der Shoa. Schon das Gespräch über diese Definition hilft, mehr Bewusstsein für die Auswirkungen von Judenhass zu wecken. Und die ausgiebige Beschäftigung mit der Definition und der Wirklichkeit führt auch zu Solidarität mit Jüdinnen und Juden.
Spaenle: Definitiv. Wir müssen mehr über jüdisches Leben reden, nicht nur von der Shoa. Da sind die Schulen gefragt, aber auch die Erwachsenenbildung und die Vereine. Wir entwickeln in Bayern entsprechende Konzepte. Aus dem Jahr 321 datiert die erste historische Quelle jüdischen Leben in Deutschland aus Köln. Den 1700. Jahrestag wollen wir nächstes Jahr bewusst öffentlich feiern. Menschen jüdischen Glaubens haben das politische, wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Leben in Deutschland jahrhundertelang entscheidend mitgeprägt. Gerade Unterfranken ist bis in die Rhön und die Haßberge hinein eine Region mit vielfältigem, jüdischem Erbe. Viele Menschen kümmern sich in Schulprojekten, Kultureinrichtungen und Vereinen darum, dass dies nicht in Vergessenheit gerät. Bei aller Klage über den wachsenden Antisemitismus: Auch darüber müssen wir mehr reden.