Sehr geehrter Herr Bach, sicherlich haben Sie dieser Tage die Botschaft des Fußball-Bundestrainers gehört, haben die Größe Joachim Löws erlebt, sich ganz klein zu machen inmitten einer Krise, die die ganze Welt in Atem hält. Waren Sie auch so gerührt wie ich? Mehr noch verblüfft über so viel Demut? Ich will ehrlich sein: Für mich war Löw bisher immer ein Mann des Systems, ein Rädchen in einer stets gut geölten Maschinerie, die immer mehr Geld zu Tage fördert, ein Mann des Kapitals. Doch Löw hat gezeigt, dass er verstanden hat, worum es geht in diesen Tagen. Um Vernunft, um Einsicht, um Verantwortung, nicht nur gegenüber sich selbst. Leider habe ich von Ihnen in dieser Richtung nichts gehört.
Vernünftig, ja verantwortungsbewusst wäre es, ein Mega-Ereignis wie Olympia – angesichts eines weiterhin völlig unkontrolliert wütenden Virus – auszusetzen, es wenigstens auf den Prüfstand zu stellen und eine Absage in Erwägung zu ziehen. Aber Sie und Ihre Brüder im Geiste, die Mitglieder des Organisationskomitees und der japanischen Regierung, tun so, als gäbe es das Virus gar nicht. Als ließe es sich bis zum Beginn der Spiele am 24. Juli zwingen und beherrschen. Oder glauben Sie, Olympia ist immun? Keine andere Veranstaltung der Welt zieht so viele Millionen Besucher an, die aus aller Herren Länder stammen. Sind Sie nach allem, was man gerade von Fachleuten dazu hört, ernsthaft der Meinung, die Seuche sei bis dahin ausgestanden und man könne unbelastet von alldem feiern?
Ich bin nicht naiv, Herr Bach, natürlich ist mir klar, dass im Falle einer Absage nicht nur Ihr IOC viel Geld in den Wind schreiben müsste, aber die Fußballer haben doch vorgemacht, wie es gehen kann: indem man die Europameisterschaft, auch kein kleines Event, einfach um ein Jahr verschiebt. Wäre es zu viel verlangt vom IOC, diesem Beispiel zu folgen und nicht einfach trotzig zu sagen "The games must go on", wie 1972, nach dem palästinensischen Terror von München? Was Sie später als "entschlossenes Zeichen im Kampf gegen den Terrorismus" werteten – nämlich die Spiele unbeirrt fortzusetzen –, empfanden andere als kalt und herzlos. Nutzen Sie wenigstens jetzt Ihre Chance: Handeln Sie verantwortungsvoll und angemessen und nehmen Sie die Olympischen Spiele von der Agenda!
Vielleicht ist es dafür aber auch schon zu spät. Vielleicht haben Sie durch Ihr berechnendes Spiel auf Zeit wieder einmal eine gute Gelegenheit verpasst, das Bild des IOC von der raffgierigen Organisation zu korrigieren; zu beweisen, dass Olympische Spiele jenseits ihres Mythos tatsächlich noch ideelle Werte besitzen, die sie nicht bedenkenlos dem Kommerz unterwerfen. Ich weiß, das ist viel verlangt – das ist, als würde man Dagobert Duck zum Heiligen Martin machen. Das olympische Motto "Schneller, höher, weiter" haben Sie im IOC seit Jahrzehnten so verstanden: die Dynamik des Sports im Sinne von Fernseh-Tauglichkeit zu beschleunigen, dadurch die Kontostände Ihrer angeblich "gemeinnützigen" Organisation zu erhöhen und Macht und Einfluss in der Welt zu mehren.
Ich möchte Sie daran erinnern, Herr Bach, dass Sie vor sechs Jahren die "Agenda 2020" ausriefen und das IOC reformieren wollten. "Coubertin ist mitten unter uns!", meinten Sie damals voller Begeisterung. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Gründer des IOC sich im Grabe umdrehen würde bei all dem Gigantismus und Kommerz rund um die von ihm ins Leben gerufenen Spiele der Neuzeit. Weil Sie im Westen zunehmend an Grenzen stoßen, haben Sie begonnen, die Stoßrichtung zu verlagern: Pyeongchang 2018, Tokio 2020, dann Peking 2022 zeigen, auf welche Weltgegend Ihre kommerziellen Strategien ausgerichtet sind: jene der Top-Sponsoren, der Sport-Industrie sowie des IOC selbst. Dass die Organisatoren von Tokio drei Milliarden US-Dollar von gut 60 japanischen Firmen und Investoren eingesammelt haben – mehr als je zuvor –, mag ein Grund sein, an den Spielen festzuhalten. Aber aufgeschoben ist doch nicht aufgehoben. Und mit Sturheit kommen wir keinen Schritt weiter.
Wo der Fußball-Bundestrainer derzeit gewaltig an Sympathie gewinnt, wo Löw Gier, Machthunger und Profitstreben geißelt, wo ein 60-Jähriger anmahnt, dass jeder Einzelne in der Gesellschaft sich hinterfragen müsse, gebärden Sie sich als Advocatus Diaboli. Als Jemand, der sich die Freiheit erlaubt, Realitäten zu ignorieren. Als ein Lobbyist, der sich allein den Interessen seines Verbands verpflichtet fühlt und alles um sich herum ausblendet. Das kann es nicht sein, Herr Bach. Lassen Sie Löws Worte auf sich wirken – und dann handeln Sie endlich!