Am Ende kommt es auf Seite 32 an, Zeile 1084. Holger Zastrow, der stellvertretende Vorsitzende der FDP, würde hier gerne eine Passage ins Wahlprogramm einfügen, die so gar nicht zu dem neuen, gefühligeren Liberalismus passen will, den der Parteivorsitzende Philipp Rösler inzwischen vertritt. „In der Sozialen Marktwirtschaft“, hat der Sachse Zastrow in seinen Antrag geschrieben, als müsse er seine Freidemokraten noch einmal an ihr ordnungspolitisches Glaubensbekenntnis erinnern, „erfolgt die Festsetzung von Löhnen und Gehältern durch die Tarifparteien und im Rahmen der Vertragsfreiheit und nicht durch den Staat oder von ihm eingesetzte Kommissionen.“
Wenn ein Satz den Parteitag der FDP an diesem Wochenende in Nürnberg aus dem Tritt bringen kann, dann ist es dieser. Wie die Union plädiert auch Rösler inzwischen für eine Art Mindestlohn light in Regionen, in denen Arbeitgeber und Gewerkschaften zu schwach oder nicht mehr willens sind, Tarifverträge miteinander zu verabreden. Wie die Union nennt er seinen Mindestlohn, nicht Mindestlohn, sondern Lohnuntergrenze. Anders als Angela Merkel oder Horst Seehofer jedoch hat der FDP-Chef sich heftiger innerparteilicher Widerstände zu erwehren. „Deutschland braucht beim Mindestlohn keine fünfte sozialdemokratische Partei“, warnt der Bundestagsabgeordnete Patrick Meinhardt, neben Zastrow einer der Wortführer des Widerstandes.
„Es wird heftige Debatten geben“, ahnt auch der Kieler Fraktionschef Wolfgang Kubicki, der seit kurzem im Präsidium der Partei sitzt. Ausgerechnet er, der einen Ruf als notorischer Querdenker und Quertreiber zu verteidigen hat, ist diesmal ganz bei Rösler. „Leider haben wir bei uns einige Hardliner“, klagt Kubicki, „die glauben, Regulierungen des Staates seien generell des Teufels.“
Die rigorose Art, mit der vor allem die Jüngeren in der Partei, aber auch Teile der bayerischen FDP Stimmung gegen die Lohnuntergrenze machen, halte er nicht gerade für liberal. „Das ist mir zu dogmatisch.“
Vier Monate nach dem Beinahe-Putsch vor der Landtagswahl in Niedersachsen sitzt Rösler zwar fester im Sattel denn je. Die Abstimmung über den Mindestlohn in Nürnberg aber wird, ob er es will oder nicht, auch zu einem Testlauf für seine Autorität und seine Durchsetzungsfähigkeit. Schon macht, wie in der Union, auch unter den ersten Liberalen der Vorwurf von der schleichenden Sozialdemokratisierung die Runde, die Rösler und der frühere Generalsekretär Christian Lindner betrieben. Neben dem Mindestlohn führen ihre Kritiker dabei auch das Plädoyer für die doppelte Staatsbürgerschaft ins Feld, das die FDP-Spitze ins Wahlprogramm schreiben will. Vielen in der Partei klingt das zu grün und sozialdemokratisch, wenige jedoch artikulieren ihre Kritik so offen wie der hessische Justizminister Jörg-Uwe Hahn: „Ich werde das Staatsbürgerschaftsrecht nicht auf dem Altar des Wahlkampfes opfern.“
Außenminister Guido Westerwelle unterstützt die Mindestlohn-Pläne Röslers. „Es hat mit Leistungsgerechtigkeit nichts mehr zu tun, wenn jemand mit drei Euro Stundenlohn nach Hause gehen muss“, sagte er. „Ich unterstütze die Parteiführung deshalb dabei, Missstände bei den untersten Lohngruppen anzupacken.“ Leistungsgerechtigkeit sei kein Privileg derer, die gut verdienen. Auch der Spitzenkandidat der Liberalen, Rainer Brüderle, unterstützt den Mindestlohnkurs Röslers: „Mit unserem Konzept zu Lohnuntergrenzen verhindern wir einen politischen Lohnwettbewerb.“ Lohnuntergrenzen könnten dort sinnvoll sein, wo es keine Tarifpartner gebe, die Löhne verhandeln.
Die Liberalen wollen am Wochenende das Programm für die Bundestagswahl beschließen. Am Freitagnachmittag kam die FDP-Spitze bereits für letzte Vorbereitungen zusammen. Gewählt wird in Nürnberg nicht. Rösler war bereits auf einem Parteitag Anfang März für zwei weitere Jahre als Bundesvorsitzender bestätigt worden. Mit Informationen von dpa
FDP-Wahlprogramm
Die Schwerpunkte des Entwurfs:
Europa: Die FDP bekennt sich zur Europäischen Union, die auf lange Sicht per Volksabstimmung ein europäischer Bundesstaat werden soll.
Steuern: Die FDP lehnt höhere Steuern ab. Bürger und Firmen sollen möglichst entlastet werden.
Banken: Die FDP will mehr Kontrolle, aber keine neuen Steuern für Finanzkonzerne.
Energie: Die Stromsteuer soll sinken, die Ökostromförderung radikal reformiert werden.
Familie: Ziel ist die rasche, volle rechtliche Gleichstellung von Homo-Ehen.
Frauen: Die FDP will mehr Frauen in Führungsverantwortung, lehnt feste Quoten jedoch ab.